Jakow Krotow
Asymmetrie des Friedens, 2008.
Georgien den Georgiern?! Pustekuchen! 2008.
Brief an den Präsidenten der
Russischen Föderation, 2008.
Translated by Maria Arkadief, artstadt.tk
Verena Flick. Jakow Krotow und die
Deutschen, 2001.
Asymmetrie des Friedens
Die imperialistische
Propaganda in Russland 1490-1917 wurde auf der Orthodoxie aufgestellt. Nicht
die Orthodoxie ist schuld daran, in allen anderen orthodoxen Ländern,
Byzantie eingenommen, erzeugte sie keinen Militarismus und keinen
Imperialismus.
Imperialistische
Propaganda in Russland 1917-1991 wurde auf dem Marxismus aufgestellt. Marx ist
nicht schuld daran, gewissermaßen sind so gut wie alle Soziologen der
Welt, im Grunde auch die bloßen Intellektuelle, heute Marxisten, doch sie
gedenken auch nicht im Entferntesten daran, ein Imperium aufzubauen.
Imperialistische
Propaganda in Russland wird seit 1991 auf dem Abkupfern aufgstellt.
Verwende ein potenzieller
Gegner den Begriff „Genozid“ - bitte: seitens der Tschetschenier findet ein
Genozid der Russen statt, seitens der Juden, das Genozid der Araber, seitens
der Georgier das Genozid der Osseten, seitens der Menschenrechtler findet ein
Genozid der Milizionäre statt.
Wurde der Begriff
„Terrorismus“ in Umlauf gebracht - gerne doch, zumal es nicht das erste mal
ist; viele wurden schon 1937, als angeblich einen Anschlag auf Stalin
Planenden, erschossen.
„Das Extremismus“ wurde
mit gieriger Begeisterung aus den Händen der
Weltgemeinschaftentrießen. Fragst du etwa die Regierung, wohin die
Steuern fließen? Extremist! Willst du den Bürgermeister, den
Oberbürgermeister,
den Hausmeister, selber
wählen? Dreifacher Extremist!!!
Man möchte hoffen,
dass dieses propagandistische Spiel ihr Höchstmaß in den Ansprachen,
welche die Besetzung Abchasiens und Südossetiens hätten
übertönen sollen, finden wird. Ihr – Iraq, wir – Georgien. Ihr habt
Saddam entthront, wir Saakaschwilli. Ihr habt Kosovo erobert – wir
Abchasien.
Solches Verhalten ist,
natürlich das Merkmal von propagantistischem Unvermögen.
Sie können
nichteinmal mehr stehlen, wie man einst die Orthodoxie und den Marxismus
für den Militarismus gestohlen hatte. Um die nazistischen Prinzipien
direkt und unverhohlen zu verkünden sind sie zu feige.
Militarismus in Russland
geht nun genauso vor, wie ein Teenager, welcher nur schlechthin Schach spielen
kann und die Züge des Gegners nachmacht, in der Überzeugung, auf
diese Weise mindestens das Unentschieden erreichen zu können.
In ... funktioniert diese
Methode, übrigens, wenn man den ersten Zug macht und das Kreuz in die
Mitte setzen. Doch das Leben kennt eben nur die Kreuzchen. Grabmale in Form von
Nullen gibt es nicht. Es gibt auch den Militarismus, welcher hofft das Leben
länger genießen zu können, indem es die Anderen ins Grab mit
dem Kreuzchen befördert. Doch so ein Leben ist natürlich nicht als
einen Null wert.
Das russische Militarismus
übersprang ein Paar Bauern und sind nun ausgesprochen stolz und heiter.
Bedeutet dies etwa, dass diese Partie verloren ist?
Nein, tut es nicht. Ein
erfahrener Schachspieler wird nur allzuleicht den Burschen einwickeln, der auf
den Einfall kommt, symmetrische Züge zu machen. Paradoxalerweise muss man
hierfür von dem Spiel der Vernichtung der feindlichen Figuren zum Spiel
zur Erhaltung der eigenen Figuren übergehen.
Die Frage ist nur, was man
für das Eigene hält. Als England und Frankreich Tschechoslowakei
verraten haben, so hielten sie nicht die Tschechen, sonder die Englender und
die Franzosen für die „eigenen Figuren“. Ein Irrtum, für dem sie nach
vollem Maß bezahlen mussten.
Theoretisch sollte
Russland als nächstes auf eines der Pribaltika-Länder zustoßen.
Praktisch gesehen ist das ausgeschlossen – weil diese Länder für
Europa ganz ihre eigenen geworden sind. Auch Polen kann ruhig schlafen. Die außerhalb
der UNO-Gränzen gebliebenen Ukraine, Weißrussland und Aserbaidschan
müüsen dagegen unruhig schlafen.
Und schon hat man die
Antwort. Es ist also nicht so wichtig, ob die westlichen Länder ihre
Streitkräfte in Georgien einführen, wie es wichtig ist, dass die
Ersten Georgien in die westlichen, friedlichen Bunde sowie Kriegsallianzen
eingliedern.
Darauf kann an
natürlich lange warten, wenn es keine, wichtigere, Bewegung geben wird –
wenn die in Georgien, in Ukraine, und eigentlich auch in Russland lebende
Menschen der eigenen Gesinnung nach nicht Europäer werden.
Kreml erhebt den Anspruch,
seine Staatsangehörigen verteidigen zu wollen? Seien Sie keine kremelschen
Staatsangehörigen, seien Sie Bürger Europas, Weltbürger!
Tagtäglich für
das Recht zu sein. Nicht für das Gesetz, für das Recht. Wenn der
Unterschied nicht verständlich ist, wird man lange schurten müssen,
bis man die Weltbürgerschaft erwerben können wird.
Tagtäglich für
den Vorrang der Persönlichkeit über den Staat, der Freiheit über
die Sicherheit, der Gerechtigkeit über die Lüge.
Tagtäglich kein
Zyniker, sonden ein Humanist in jeder Hinsicht zu sein. Tagtäglich ein
Pazifist zu sein, nicht etwa indem man den Aggressor befriedet, sondern die
Aggression, die Lüge und den Militarismus verurteilend. Indem man
verurteilt, nicht indem man schießt.
Das brauchen Russen,
brauchen Euroäer. In der Tat, die Schwierigkeit liegt nicht daran, dass
sie Angst haben, Georgien in diesem Krieg mit Russland zu helfen, sondern dass
sie zu allzuselten Europäer gewesen sind – sowohl Russland, wie auch
Georgien gegenüber, und konnten den Krieg nicht abwenden. Wenn doch die
Europäer immer europäisch leben würden! Doch auch sie wollten
auf die sowjetische Art einsparen, immer wieder auf morgen verschiebend – so ist
die Tragödie in Balkan geraten, genauso in Iraq. Ein Krieg ist der
Versuch, das aufzuholen, was man versäumt hatte, mit dem Herzen zu tun.
Wenn
also die Europäer völlig Europäer sein werden, wenn sie das
Bemühen um die Errichtung des Friedens und der Gerechtigkeit, welches man
alltäglich darf und muss aufnehmen, nicht mehr, auf die Macht der Waffen
hoffend auf morgen verschieben, dann wird man ruhig leben können, ohne
sich vor dem Nachäffen des Aggressors fürchten zu müssen. Soll
er nur machen – dann muss er von dem Dasein des Aggressors ablassen und zu
einem normalen Menschen werden. Was auch letzten Endes verlangt wird.
Georgien den Georgiern?! Pustekuchen!
Man behauptet, die georgischen Nationalisten seien nun beim Proklamieren des Slogans „Georgien den Georgiern“ angelangt.
Es versteht sich von selbst, dass der Russe darauf nur Eines antworten kann: „Georgien den Russen“. Dies bezieht sich natürlich auch auf die Ukraine.
Es gibt, Gottseidank, keine Tausenden von (mindestens von den Georgiern) Ermordeten. Sonst hätte man längst jede einzelne Leiche aus tausend Blickwinkeln gezeigt. Man ist nun soweit, dass die Kremlpropaganda die Georgier der Verbrennung von getöteten Osseten beschuldigt hatte – „die“ müsse man nicht einmal begraben. Dieses Goldstück wird, denke ich, in die Annalen der Antijournalistik eingehen. „Der Pfaffe besaß einen Hund, diesen tötete er und wurde verboten.“ Des Hundes Grab können wir nicht zeigen. Der Pfaffe hat den Hund verbrannt und die Asche aufgegessen.
Schrecklich ist es, Recht gehabt zu haben, doch 1992 warnte ich davor, womit der Anschlag auf die Gewissensfreiheit und die Freiheit der Wirtschaft enden würde. Und dann, im Jahre 2000, als ich Putin mit Hitler verglich, sagte man mir, es sei eine Übertreibung. Es ist aber eine Untertreibung: Hitler gestattete sich eine solches Hohngelächter, wie Putin, nicht. Hitler war mindestens aufrecht.
Das, was Russland jetzt mit Georgien macht, ist nur eine vergrößerte Wiederholung von dem, was Russland die letzten 15 Jahre mit eigenen Oppositionären machte.
Flegelhafte und schamlose Gewalt, eine noch verlogenere Propaganda als die von Hebbels, Verspottung der Gesetze und selbst der Gabe des Menschen zu sprechen.
Aber wenn all dies mit uns gemacht wird – wir haben es mit schweigendem, manchmal sogar mit nicht schweigendem Einverständnis verdient, in einem rechtswidrigem Staat zu leben, um sich sicher zu fühlen, um in unserer Schande dahinvegetieren zu können. Wenn wir aber das Gleiche unseren Nachbaren antun, ist das keine Schande mehr, sondern ein Verbrechen. Und so schäme ich mich nicht für Russland – dies ist das Privilegium der Unbeteiligten. Ich spüre, dass man mich in ein Verbrechen hineingezogen hat. Es ist das gleiche Gefühl der Hilflosigkeit, wie es auch die haben, welche sich jetzt in Georgien befinden; nur, dass diese Hilflosigkeit nicht die eines Opfers, sondern die eines gezwungenen Mittäters des Verbrechens ist.
http://artstadt.ar.funpic.de/html/untitled14.html, 2008
Brief an den Präsidenten der
Russischen Föderation
Sehr geehrter Dmitri Anatoljewitsch,
Ich bin ein Bürger dieses Staates, der das Recht hat, seine
Führung zu wählen und dementsprechend die Verantwortung für
die Handlungen dieser Führung zu tragen hat. Daher bin ich
gezwungen, Sie inständig darum zu bitten (ich verwende den
Begriff "fordern" nicht, da es Ihren Stolz verletzen
könnte), bekannt zu geben, dass Sie den Einmarsch der russischen
Streitkräfte nach Georgien bedauern, und deshalb von Ihrem
Posten des Präsidenten der Russischen Föderation
zurücktreten. Offensichtlich müssen Sie jedoch bis zu den
Wahlen des neuen Präsidenten, welche so früh wie möglich
durchgeführt werden sollten, auf Ihrem Posten bleiben.
Auch jetzt schon können und müssen Sie die russischen
Streitkräfte bis zum letzten Soldaten aus Georgien entfernen,
sowie die Entscheidung, die Unabhängigkeit Südossetiens und
Abchasiens anzuerkennen, zurückziehen.
Auch jetzt schon, meiner Meinung nach, sind Sie verpflichtet, den
Regierungschef Putin, sowie alle politisch und militärisch
führenden Kräfte des Landes, welche die Invasion in
Georgien vorbereitet, die propagandistischen Desinformationen über
die "Agression Georgiens", über den "Völkermord"
verfasst haben, zu verabschieden.
Auch jetzt schon können und müssen Sie die Auszahlung
der Entschädigung für den Schaden, welchen die Invasion
Russlands in Georgien dem Georgischen Staat und den Staatsbürgern
Georgiens zugefügt hat, die Entschädigungen der Angehörigen
der Opfer, die seit dem 1. August bis jetzt umgekommen sind, der
ethnischen Osseten wie der Georgier eingenommen - kurz gesagt, aller
zu Schaden gekommenen, in die Wege leiten.
Ich traue mich nicht, Ihnen den Vorschlag zu machen, die
Hilfsaktionen an alle, welche während der letzten zwanzig Jahren
gezwungen wurden, aus Abhasien und Südossetien der andauernden
Gewalt wegen zu fliehen, zu organisieren. Hilfe bei der Rückkehr
in die Heimat, die Rückgabe der Häuser und der Wohnungen,
des Eigentums. Offensichtlich muss sich der russische Staat auch hier
auf die finanzielle Entschädigung begrenzen.
Es versteht sich, dass Sie sich auch jetzt schon an den Rat der
Vereinten Nationen wenden können und müssen, anerkennend,
dass nur diese Organisation die nötige Kompetenz besitzt, um die
Ausmaße der Entschädigungen, welche unser Land
verpflichtet ist auszuzahlen, sowie die Zusammensetzung der
Friedenstruppen (unter dem natürlichen Ausschluss russischer
Kräfte), welche Georgien helfen sollen, den Frieden im eigenen
Land wiederherzustellen, zu bestimmen. Ich glaube, dass es durchaus
vernünftig und moralisch vertretbar wäre, schon im Vorraus
auf das Recht der Mitbestimmung bei jeglichen, mit Georgien
zusammenhängenden Fragen zu verzichten.
Mit freundlichen Grüßen,
Jakov Gawrilowitsch Krotov
Verena Flick
JAKOW KROTOW UND DIE DEUTSCHEN
„Mein Name ist Jakow Krotow...Ich lebe in
Moskau seit meiner Geburt 1957.
Ich bin Christ und verheiratet (meine Frau
Irina ist, so weit ich weiß, die schönste Frau der Welt.)
Ich habe zwei Söhne. Mark (geb. 1977)
und Matwej (geb.1980). Ich bin Journalist (das bringt mir Geld) und ich bin ein
Kirchenhistoriker ( das nimmt mein Leben in Anspruch). Ich bin russisch -
orthodox, das bedeutet für mich, daß ich es als möglich und
notwendig ansehe, Christen nicht nur in der östlichen Orthodoxie zu
begegnen, sondern genau so gut in der römisch - katholischen Kirche und -
mit mehr Anstrengungen - unter den Protestanten oder den Christen
außerhalb der Konfessionen.“
Mit diesen Worten stellt sich Krotow im englischen
Teil seiner Website den Lesern vor. Diese Information ließe sich noch
vervollständigen.
...
Auf [Krotows] Homepage findet man eine
umfangreiche Bibliothek zu Themen des Christentums in Geschichte und Gegenwart,
und das „Tagebuch eines Literaten“, in dem Krotow treffsicher und oft ironisch
Tagesereignisse kommentiert. Er ist Sohn eines russischen Vaters und einer
jüdischen Mutter., beide Eltern waren Lehrer. Der Vater war ein Kommunist,
der aus Idealismus mit den staatlichen Repräsentanten dieser Lehre in
Konflikt geriet und dafür mit langjähriger Haft bezahlen mußte.
Von zentraler Bedeutung aber wurde sein geistlicher Vater für ihn, der
Priester Alexander Men, der in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von
Moskau wirkte, die aber in den letzten Jahren der Sowjetunion immer
häufiger von den Intellektuellen der Hauptstadt besucht wurde. Den
„Missionar des Stammes der Intellektuellen“ - so hat man Men genannt. Doch
gerade durch die Offenheit und Menschenfreundlichkeit des von ihm
verkörperten Christentums machte sich Alexander Men auch Feinde, vor allem
in den Kreisen der Kirche, die den Geheimdiensten nahestanden. Ihnen war schon
die jüdische Herkunft Mens ein Dorn im Auge, und seine Toleranz
gegenüber den westlichen Christen erweckte vollends das Mißtrauen
jener Kreise. Alexander Men wurde im September 1990 hinterrücks mit einer
Axt erschlagen, und den Mörder hat man bis heute nicht gefunden. Die
Indizien, daß Geheimdienste da eine Rolle gespielt haben könnten,
sind freilich stark. ...
Dies sind wenige Informationen, und dennoch
enthalten sie Behauptungen, die in den deutschen Lesern manche Fragen erwecken
könnten. ... Was ist ein geistlicher Vater? Wie kommt eine ganze
Bibliothek auf eine private Homepage?
Es wäre leicht, die
Mißverständnisse Punkt für Punkt auszuräumen. Doch
würde man dann auch verstehen, warum sie entstehen konnten? Für den
deutschen Leser ist die Begegnung mit einer Persönlichkeit wie Jakow
Krotow nicht zuletzt deshalb so interessant, weil es vergleichbare Erscheinungen
bei uns überhaupt nicht gibt. Die besondere Situation der Kirchen in
Deutschland wird durch die Konfrontation mit dem Andersartigen blitzartig
erhellt. Es ist die Zeit, in der der Unterschied zwischen Katholiken und
Protestanten, der für die deutsche Geschichte eine so zentrale Bedeutung
hatte, immer geringer wird. Noch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten erweckte
das Wort „Mischehe“ Assoziationen an innerdeutsche Familientragödien.
Heute versteht man unter Mischehen ganz eindeutig Ehen zwischen Deutschen und
Muslims oder Angehörigen anderer Religionen.
Diese neue Einigkeit ist aber mit einem hohen
Preis erkauft worden: dem Vergessen der christlichen Tradition. Auf einem
Klassentreffen erzählte vor kurzem eine meiner Mitschülerinnen, die
als Deutschlehrerin arbeitet, ihre Schüler könnten die klassische
deutsche Literatur nicht mehr verstehen, weil es in ihr zu viele Anspielungen
auf Bibel und Christentum gäbe. Diese Lehrerin unterrichtet nicht etwa in
der ehemaligen DDR, sondern im westdeutschen Ingelheim, einer Stadt in einem
traditionell katholischen Weinbaugebiet, wo die meisten Menschen noch nicht aus
der Kirche ausgetreten sind. So wurde also in Westdeutschland ohne Gewalt ein
Zustand erreicht, der in Rußland nur durch jahrzehntelange gewaltsame
Unterdrückung der Kirchen bewirkt werden konnte. Statistisch ist dies
bestätigt: laut einer Umfrage haben 39% der Kinder in Westdeutschland noch
nicht einmal eine Ahnung, worum es an Weihnachten geht, von den ostdeutschen
Kindern ganz zu schweigen.
Der entscheidende Unterschied zwischen dieser
Situation in Rußland und in Deutschland besteht aber auch darin,
daß bei uns zwar einige Menschen darunter leiden, sie aber in der
Öffentlichkeit kaum etwas zu sagen haben. In Rußland aber wäre
die gesamte Gegenwartskultur nicht denkbar ohne das Leiden am Verlust der
Tradition. Daß Privatpersonen sich die Zeit und Mühe machen, ganze
Bibliotheken ins Internet zu setzen, ohne dafür irgendwie entlohnt zu
werden, erscheint uns wie eine Verschwendung von Arbeitskraft, zumal bei uns so
etwas aus urheberrechtlichen Gründen kaum möglich wäre. Auch die
Wiederbelebung einer orthodoxen Tradition, in der der Priester gleichsam
Vaterstelle an seinen Gemeindegliedern ausübt, hängt mit dem Wunsch
zusammen, die zerrissene Kette der Überlieferungen wiederherzustellen.
Warum aber empfindet man bei uns das
Zerreißen der Kette nicht als Katastrophe, sondern eher als Wohltat, und
warum gibt es keinen Widerstand in den Kirchen dagegen? „ Diese Woche wurde
eine Untersuchung des Davoser "World Economic Forum" bekannt, die
erfragte, welches Ansehen bestimmte Institutionen in 47 Ländern haben. Nur
in einem einzigen Land auf der Welt ist die Kirche danach nicht im vorderen
Feld plaziert, nur in einem einzigen Land liegt die Kirche auf dem letzten
Platz: in Deutschland.“ So schrieb unlängst Florian Illies in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, in dem Aufsatz „Kein feste Burg ist uns
die Kirche.“ Welche Kirche meint er damit? Wie es für Deutschland
typisch ist: beide Großkirchen, die evangelische und die katholische
zugleich. Denn stärker als alle immer noch bestehenden trennenden Elemente
wirkt auf den Außenstehenden der gemeinsame Lebensstil. Was stört
Illies nun an diesem Lebensstil? Das sagt schon der Untertitel: „Die Kirchen
kuscheln sich mit Anbiederung ins Abseits.“ Der Autor kritisiert nicht
etwa, daß sich die Kirchen zu weltfremd sind, wie das allgemein
üblich ist, sondern im Gegenteil, daß sie sich zu sehr anpassen.
Wörter wie „kuscheln“ oder „Anbiederung“ zeugen auch davon, daß den
Autor nicht nur das Was, sondern auch das Wie der Anpassung beider Kirchen an
die Welt stößt. Die ganze Ängstlichkeit, die unfreiwillige
Infantilität, die für unsere kirchliche Atmosphäre so
charakteristisch ist, kommt in diesen beiden Wörtern zur Sprache. Konkret
sieht das folgendermaßen aus: „Wer liest, wie stolz die EKD-Synode[1] gerade mitteilen ließ, daß sie auf ihrer Herbsttagung in
Timmendorfer Strand bei der Morgenandacht Herbert Grönemeyers Lied
"Mensch" gespielt habe, der merkt, daß man dort immer noch fest
überzeugt ist, daß man nur immer mehr Nummer-1-Hits spielen
muß, damit man vom letzten Platz in der Anerkennungsskala von Davos
verschwindet. Das Synodenmitglied Christel Ruth Kaiser erklärte, das beste
an dem Lied sei, daß es um "menschliche Gefühle" geht und
daß "Grönemeyer nicht predigt". Schöner ließe
sich nicht demonstrieren, wie sehr sich eine Kirche, die sich immer mehr mit
der Welt verständigt, am Ende auch den Bewertungsmaßstäben der
Welt unterzieht - und dann schließlich die urchristliche
Kommunikationsform der Verkündigung, die Predigt, als negatives Verfahren
brandmarkt.“
Hier wird deutlich sichtbar, wodurch die
Kirchen bei uns einen großen Teil der Bevölkerung abschrecken. Das,
was für die meisten Menschen banaler Alltag ist, wird von den
praktizierenden Christen so bestaunt, wie ein Kind die Erwachsenenwelt
anstaunt, zu der es noch nicht ganz zugelassen ist, in die es aber einmal
hineinwachsen wird. Es ist das typische Minderwertigkeitsgefühl der Kinder
gegenüber den Erwachsenen, die so viel mehr können und dürfen
als sie selbst und die man deshalb auch nicht kritisieren kann.
Illies ist noch höflich: er verschweigt,
daß jene Christel Ruth Kaiser die Morgenandacht für die gesamte
Synode gehalten hat und dabei anstelle eines Bibeltextes den Text des Hits Nr.
1 interpretiert hat. Er verschweigt auch, daß anschließend an alle
Synodalen eine CD mit diesem Hit verteilt wurde. Und er führt der
Gerechtigkeit halber auch ein katholisches Beispiel an. Da es mir aber als
nicht so charakteristisch wie das protestantische erscheint, möchte ich es
durch ein anderes ersetzen. Da hat der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes doch
tatsächlich mit jenen Meßgewändern, die der
österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch im Rahmen seines
Orgien -Mysterientheaters mit dem Blut von auf der Bühne geschlachteten
Schafen bespritzte, normale Messen gefeiert. Dadurch wollte er sich nicht etwa
der blasphemischen Haltung dieses Künstlers anschließen, dem die
offizielle Kirche im wahrsten Sinne des Wortes zu blutleer war. Noch weniger
wollte er die durch die Blasphemie geschändeten Meßgewänder
wieder neu weihen. Seine Absicht war klar: er wollte den ihm anvertrauten
Katholiken die moderne Kunst als solche nahebringen. Dadurch ist die Art seines
Handelns der von Christel Ruth Kaiser verwandt: hier wie dort wird
Nachhilfeunterricht in Sachen Modernisierung gegeben, und erwachsene Menschen
werden wie Schüler behandelt. Der Unterschied zwischen Hochkultur und
populärer Kultur ist demgegenüber zweitrangig.
Die Problematik eines Ruhms in der Art von Grönemeyer,
der den Sänger dazu gezwungen hat, den Tod von Ehefrau und Bruder in aller
Öffentlichkeit vermarkten zu müssen, die Problematik des Blutdursts
von Hermann Nitsch - sie werden von kirchlicher Seite überhaupt nicht in
Erwägung gezogen. Das heißt nicht, daß die Kirchen in
Deutschland der ganzen Welt gegenüber unkritisch seien. Ganz im Gegenteil
- Christen sind meist sehr engagiert, wenn es um den Kampf gegen das Böse
in der Welt geht, gegen den Krieg ebenso wie gegen die Ausbeutung der armen
Länder, gegen die Ausgrenzung von Obdachlosen und Behinderten und was es
sonst noch an schlimmen Dingen gibt. Gerade durch die Art und Weise, in der
Christen in Deutschland zeigen, daß sie keine anderen Wünsche haben
als nur den, das Leid in der Welt zu lindern, erregen sie das Mißtrauen
der Intellektuellen. „Gutmensch“ - mit diesem Neologismus hat Kurt Scheel,
einer der Herausgeber der unter Intellektuellen sehr angesehenen Zeitschrift
„Merkur“ die Geschichte der deutschen Sprache verändert. Das Wort machte
unter Intellektuellen eine große Karriere. Karl Heinz Bohrer,
emeritierter Germanistikprofessor und als Mitherausgeber des „Merkur“ ein unter
der Intelligenzia hochangesehener Mann, hat diesen Typus stets genau
charakterisiert, immer wieder definiert, was unter diesem „Gutmenschen“ gemeint
wird, zuletzt im November dieses Jahres im Aufsatz „Auf deutschen Wegen“:
Für ihn ist gerade die Friedfertigkeit der Deutschen, die sogar
während des Zweiten Weltkriegs vom amerikanischen Geheimdienst
bestätigt wurde, die Wurzel allen Übels und seiner Meinung nach die
Hauptursache für den Nationalsozialismus: „Wer sich heute
Wochenschaubilder und Fotografien mit Gesichtern von den begeisterten
Zuschauern, die den Führer grüßen, anschaut, dem fällt
angesichts ihres Ausdrucks eine Reihe von emotionellen Qualifizierungen ein.
Die wichtigste davon ist: nicht Hysterie, sondern Naivität. Es ist die
Naivität, die das erwähnte Frösteln macht, denn man kann
unter diesem Wort eine Reihe psychologischer Defizite einreihen: eine
Kindlichkeit, die Undifferenziertheit meint, eine Begeisterung, die Mangel an
Individualität impliziert, ganz zu schweigen von jenen Eigenschaften, die
hier nicht mehr anwesend sind, aber zu einer zivilisierten Gesellschaft
gehören: Ironie, Distanz zum Anderen, Geschmack, aber auch Zivilcourage
und vor allem Gefühl für das Relative jedes Standpunkts“.
Freilich können Ausländer, die im
deutschen Alltag nach den Spuren dieser Geisteshaltung suchten, nur sehr schwer
fündig werden. Denn nur die ganz Alten sind in Deutschland gegenüber
dieser Art von Idylle nicht allergisch, und so versucht man, die Neigung zu ihr
auch dann nach außen zu verbergen, wenn man sie insgeheim pflegt. Es gibt
nur einen Ort, wo diese Mentalität ganz ungeniert zutage tritt, und das
sind die Kirchen. Weil der Ballast der Vergangenheit, den die meisten Deutschen
schon abgeworfen zu haben glauben, bei ihnen noch sichtbar ist, werden sie
gesellschaftlich gemieden. Dabei sind sich die Kirchen meist völlig
unbewußt, wieviel von diesem Ballast noch bei ihnen herumliegt; Menschen
mit kirchlichem Engagement distanzieren sich meist noch stärker von der
nationalsozialistischen Vergangenheit als andere. Gerade darum ist es nicht
unwahrscheinlich, daß Bohrer vor allem die Kirchenbesucher im Auge hat,
wenn er den Verdacht hegt, „...daß man sehr wohl politische Ansichten
und Handlungen sehr schnell ändern kann, offenbar aber nicht sehr tief
verankerte Mentalitäten.“ Kirchenbesucher unterscheiden sich von den
anderen auch dadurch, daß ihre Elternbindung stärker als bei den
anderen ausgeprägt ist.
Gerade darum gibt es in Deutschland zur Zeit
niemanden, den man mit Jakow Krotow vergleichen könnte. Daß jemand
so offen über seine Erfahrungen mit dem christlichen Glauben spricht, ohne
die geringste Angst, sich damit zu blamieren - das findet man hier
höchstens in bestimmten sektiererischen Kreisen. Das Internet - Tagebuch
Krotows zeigt aber gerade jene Eigenschaften, die Bohrer an den Ausländern
so sehr schätzt: „...Ironie, Distanz zum Anderen, Geschmack, aber auch
Zivilcourage und vor allem Gefühl für das Relative jedes
Standpunkts.“ So dürfte also Bohrer von Krotow begeistert sein? Wohl
kaum, und das nicht nur, weil dessen dezidierter christlicher Glaube den
bekennenden Atheisten Bohrer befremden müßte. Es könnte vor allem
deshalb kaum zu einem Einverständnis zwischen Bohrer und Krotow kommen,
weil Bohrer nicht verstehen kann , daß ein Menschen, der nicht nur kein
Deutscher ist, sondern die von Bohrer so geschätzten Eigenschaften in
besonderem Maße besitzt, gleichwohl für den Frieden kämpft.
Bohrer ist nämlich bekennender Bellizist, der die Westmächte
dafür regelmäßig lobt, daß sie auch Angriffskriege wagen
- so zeigte er beim Falkland - Krieg regelrechten Enthusiasmus. Daß ein
Mensch gegen den Krieg ganz anders als ein durchschnittlicher deutscher
Gutmensch schreiben kann, wird er wohl nur schwer verstehen. Denn die Kehrseite
des Hasses auf die deutsche Idylle war nicht erst seit Bohrer die Idealisierung
von Gefahr und Gewalt. „Wer den Spieß umdreht, klebt an ihm“ - dieses
Wort des österreichischen Historikers Friedrich Heer gilt für
deutsche Intellektuelle dieses Typs in besonderem Maße.
Krotow aber kümmert sich nicht um die
falsche Alternative zwischen Idylle und Anti-Idylle. Er geht von der konkreten
Situation aus, sich in einem Land zu befinden, das in Tschetschenien einen
realen Krieg mit furchtbaren Menschenrechtsverletzungen führt. Diese
Tatsache wird von den Medien vertuscht; daher gibt es zur Zeit auch so viele
Eingriffe in die russische Pressefreiheit. Nun beobachtet Krotow genau, wie der
Widerstand gegen diese Eingriffe nicht zuletzt deshalb so schwach ist, weil sie
alten Gewohnheiten entgegenkommen, die die Menschen in der ehemaligen
Sowjetunion entwickelt hatten. Immer wieder zeigt er in seinen Tagebüchern,
wie der „Sowok“ auch heute noch weiterlebt. (Mit diesem Wort, das
ursprünglich „Handschaufel“ bedeutet, wird im heutigen Rußland auf
ironische Weise jener Menschentyp bezeichnet, der die sowjetischen Gewohnheiten
noch nicht abgelegt hat.) Das Sich -Verlassen auf einen starken Staat hat auch
zum Mangel an Mißtrauen gegenüber der offiziellen
Informationspolitik geführt. Das mindert die Fähigkeit zur
Wahrnehmung der Tatsache, daß sich Rußland zur Zeit in einem sehr
brutalen Krieg befindet, und das, obwohl auch die Zahl der russischen Toten
ständig wächst.
Krotow aber kommt es vor allem darauf an,
daß die Menschen diese Wahrnehmungsfähigkeit wiedergewinnen. Zur
Hilfe kommt ihm dabei sein nicht alltägliches Sprachgefühl. In der
Sprache des russischen Alltags, in dem Jargon der Journalisten, in offiziellen
Verordnungen und im inoffiziellem Gerede und immer wieder in der Sprache der
Kirchen geht Krotow den Spuren des „Sowok“ nach, der das, was in Tschetschenien
wirklich geschieht, so stark vertuscht. Und dabei zitiert er immer genau und
nennt dabei konkrete Namen. Diese Nennung der einzelnen Menschen - das ist es
vielleicht, was die Sprache Krotows am stärksten von der Sprache der
kirchlich orientierten Gutmenschen in Deutschland unterscheidet. Es gibt vor
allem deshalb bei uns niemand, der mit Krotow vergleichbar wäre, weil
unseren Kirchen vor allem eines fehlt: der Streit. Daß beide großen
Kirchen zur Zeit Werbeagenturen einschalten, um ihr Image aufzupolieren,
läßt sich nur verstehen, wenn man davon ausgeht, daß niemand
so recht einsieht, warum die Kirchen Streit brauchen. Eine erfolgreiche
Werbekampagne hätte ja zur Folge, daß die Kirchen ein neues ,
glanzvolles Image bekämen, das nicht befleckt werden darf, um der
corporate identity nicht zu schaden. Der lebendige Streit in der Art von
Krotow, der nicht scheut, einzelne Namen zu nennen, wäre dann vollends
ausgeschlossen.
Daß der Trend in Richtung corporate
identity stärker wird, zeigt sich an der Art und Weise, in der die Kirchen
Mißstände in der Gesellschaft kritisieren. Bei uns richtet sich
diese Kritik meist gegen anonyme Gruppen, und auch die Menschen, die durch
solche Kritik verteidigt werden sollen, treten meist im Plural auf, etwa
Kriegsopfer, Behinderte, Obdachlose oder Asylbewerber. Dieses allgemeine Reden
über Gruppen erweckt vor allem bei den Intellektuellen Aggressionen gegen
die Angehörigen dieser Gruppen, obwohl sie doch nichts dafür
können, daß sie in der Sprache der Gutmenschen so pauschal behandelt
werden. Kritik an Einzelnen gibt es dagegen in kirchlichen Kreisen meist nur
bei extremem Verhalten, wie etwa bei der Pädophilie einiger Priester.
Krotow aber zeigt gerade durch seine Kritik,
daß er den Einzelnen ernst nimmt. Für ihn ist der christliche Glaube
ja vor allem deshalb so befreiend, weil er ihm die Augen dafür
geöffnet hat, daß jeder Mensch eine einmalige, unverwechselbare
Persönlichkeit ist. Dem versucht er, in seiner Sprache gerecht zu werden.
Mit den Stilmitteln der Ironie wird der Zusammenprall des Einzelnen und des Allgemeinen
genau wiedergegeben ;die Ausflüchte der einzelnen Menschen bei der Angst
vor der eigenen Freiheit werden herausgearbeitet. Diese Sensibilität
für alles, was den Menschen unfrei macht, ist aber die Kehrseite der
grundlegenden Erfahrung Krotows, daß der christliche Glaube für ihn
vor allem eines ist: Befreiung.
In jeder Ausgabe von Krotows Internet -
Tagebuch findet sich die Rubrik „Neues von Christus.“ Da vertieft sich der
Autor in jeweils einen Abschnitt des Evangeliums, und läßt sich
stets von neuem von ihm überraschen; immer wieder entdeckt er
Unerwartetes, durch das er sich befreit fühlt. Und das ist es gerade, was
seinen Glauben von den Glaubensformen unterscheidet, die bei uns in Deutschland
üblich sind. Denn auch die meisten Gläubigen fassen den Glauben nicht
als das Neue, sondern als das Altbewährte auf, das es nicht ganz
aufzugeben gilt, und im allgemeinen erwartet man von dem Glauben nicht
Befreiung, sondern Einschränkung jener Willkür, die man bei uns immer
noch als Übermaß von Freiheit mißversteht. So schicken auch
Eltern, die noch keine Kirche von innen gesehen haben, ihre Kinder in den
Religionsunterricht, damit sie etwas Moral lernen. Deshalb nimmt man auch den
Glauben bei uns nicht sonderlich ernst.
Krotow aber muß seinen Glauben auch
deshalb so ernst nehmen, weil er ihm so ungeahnte Perspektiven der Freiheit
eröffnet hat. Er kann die Augen nicht davor schließen, daß die
Freiheit zum Guten notwendigerweise die Freiheit zum Bösen
einschließt. Hier kann man erkennen, wie nahe Krotow dem russischen
Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew steht, für den die Frage nach der
Theodizee, nach dem Ursprung des Bösen in der Welt eng mit der Frage nach
der Freiheit verbunden war. Gott will die freie Liebe des Menschen, und nur
deshalb verhindert er das Böse nicht. Denn wäre der Mensch so
geschaffen, daß er nur Gutes tun könnte, müßte er ja
einem inneren Zwang gehorchen, und dies würde diese Liebe unmöglich
machen. Jeder Fortschritt der Menschheit in der Erfahrung der Freiheit bringt
so auch den Fortschritt in der Möglichkeit zum Bösen mit sich, und
das gilt im besonderem Maße für das Gebiet des Glaubens. Deshalb
kämpft Krotow auch so stark gegen jede Form religiöser
Unterdrückung, gegen alle Versuche, aus der orthodoxen Kirche eine Staatskirche
zu machen. Die obskursten Sekten verteidigt er mit großem Engagement,
wenn Staat und Kirche sie verbieten wollen, und die Unterdrückung der
russischen Katholiken stößt bei ihm auf solche Gegenwehr, daß
seine Gegner ihm schon nachsagen, er sei ein Uniierter. Denn es gehört zum
Kern seines Glaubens, daß er jede Form von aufgezwungenem Glauben als
wertlos ansieht, weil sie nicht der freien Liebe zwischen Gott und den Menschen
entspringt.
Daß zur Glaubensfreiheit auch die
Freiheit zum Mißbrauch des Glaubens untrennbar gehört, hat Krotow im
gegenwärtigen Rußland unmittelbar erfahren müssen. Wir in
Deutschland können uns kaum vorstellen, was für einen Aufbruch des
christlichen Glaubens es nach dem Ende des alten Regimes in Rußland
gegeben hatte. Daß dieser Aufbruch von Intellektuellen, Künstlern
und Jugendlichen getragen wurde, also genau von jenen Gruppen, die bei uns aus
den Kirchen so gut wie ausgeschlossen sind, gibt ihm seinen besonderen
Charakter. Die Freiheit und Offenheit, mit der Krotow über seine
Glaubenserfahrungen spricht, zeugt von der besonderen Atmosphäre dieses
Aufbruchs. Doch das Schicksal von Krotows geistlichem Vater Alexander Men hat
auch gezeigt: wenn sich Rechtsradikalismus mit etwas verbindet, was für
den christlichen Glauben gehalten wird, wächst auch die Bereitschaft, aus
Glaubensgründen zu morden. Wenn sich nun gar diese Glaubensformen mit den
destruktiven Energien der Leute von den ehemaligen Geheimdiensten verbinden, so
entsteht etwas, von dem hier geglaubt wird, daß es schon ganz und gar
ausgestorben sei.
Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist
dabei, daß nicht nur die ewig Gestrigen in Rußland an ihr
teilhaben. Gerade unter Jugendlichen, Künstlern und Intellektuellen ist
eine religiöse Subkultur im Entstehen, in der sich Satanismus und die
Verehrung orthodoxer Riten auf eine seltsame Weise miteinander verbinden.
Ebenso seltsame Allianzen geht diese Subkultur mit den alten Garden der
Sowjetunion ein, deren Mangel an Moral sie in besonderem Maße anzieht.
Bekanntlich warnte Dostojewskij seinerzeit vor einem radikalen Atheismus mit
den Worten: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.“ Heute aber ist
in Rußland eine Situation eingetreten, für die ein Satz
charakteristisch ist, den ich schon zwei Mal im russischen Internet gefunden
habe: „Wenn es einen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.“ Diese religiöse
Subkultur geht nun Verbindungen mit den rechtskonservativen Kräften ein,
denen sie frisches Blut zuführt und ihnen so zu einem Schein des Lebens
verhilft. Andererseits wurden Leute von den alten Garden der Sowjetunion, die
mit immer größerem Erfolg zurück an die Macht streben,
plötzlich gläubig . So verbündeten sich die Kräfte des
Alten und des Neuen, um alle ethischen Normen so weit wie möglich
aufzulösen.
Das hat zu einer Entwicklung geführt, die
im Tschetschenienkrieg kulminierte. Der Patriarch, der die Waffen segnet -
dieses Bild erleuchtet wie ein Brennspiegel all das, was in Rußland zur
Zeit eine katastrophale Entwicklung nimmt. Es wirft zugleich auf all das ein
Licht, was Jakow Krotow bekämpft. Liest man in diesem Licht Krotows Texte
werden manche, die von den über die Deformationen des religiösen im
russischen Internet zwar erschrocken, insgeheim aber ein wenig fasziniert sind,
einige Enttäuschungen erleben. Denn das Böse verliert bei ihm seine
Faszinationskraft und zeigt seine kleinen, häßlichen Züge.
Keine Subkultur der Welt könnte von den Menschen, die Krotow so genau
beobachtet, auf irgendeine Weise angeregt werden. Denn das Böse fasziniert
im allgemeinen ja nur wegen der mit ihm verbundenen Überschreitung der
Grenzen des Individuellen. Sieht man ihm aber genau in die Augen, dann wird
seine individuelle Brechung sichtbar, und so verliert es seinen
überindividuellen Glanz. Die Kraft, so genau auf die unattraktiven Seiten
des Bösen zu blicken, schöpft Krotow aber aus seinem Glauben,
daß der Mensch sich deshalb nicht zwingen muß, unablässig
seine Grenzen zu überschreiten, weil Gott selbst in Jesus Christus in die
Welt der Begrenzungen herabgestiegen ist.
Diese Freiheit, mit der Krotow über
seinen Glauben spricht, gibt mir Hoffnung, daß es mit dem großen
religiösen Aufbruch in Rußland, der mich anfangs so fasziniert hat,
noch nicht zu Ende ist, daß er noch nicht ganz und gar durch das
Zusammenspiel von alten Garden und neuer religiöser Subkultur in eine zerstörerische
Richtung gelenkt worden ist. Doch dann führt Krotow selbst Zahlen an, die
mich stutzen lassen. In ihnen ist von einer Umfrage die Rede, bei der es um die
Frage ging, welche Rolle die Religion in den einzelnen Ländern spielt. Einsame
Spitze ist da Senegal mit 97% der Befragten, für die Religion wichtig ist.
In den USA sind es immerhin noch 53%, doch wenn es nach Europa geht, nimmt das
Interesse an Religion rapide ab. In Großbritannien sind es immerhin noch
33%, in Deutschland erwartungsgemäß nur 20 %. Aber dann kommt die
große Überraschung: in Rußland sind es nur noch 14%!
Ausgerechnet in Rußland, wo sich, glaubt man dem Internet, den Zeitungen
und Zeitschriften, zur Zeit alles um religiöse Fragen dreht! Und wir Deutschen,
bei denen ein Mensch mit auffallender Religiosität kaum Karriere machen
könnte, sind diesen Russen um sechs Prozentpunkte voraus!
Freilich: wenn ich mich in meinem
Bekanntenkreis umsehe, so kann ich verstehen, warum unsere Prozentzahl ganz so
niedrig nun doch nicht ist. In einem Land, in dem bei evangelischen Synoden auf
Popmusik-Texte gepredigt wird und ein Medium für 15 Euro pro Sitzung mit
einem Engel namens Emanuel redet, kann jeder mit seinem religiösen
Gefühl machen, was es will. Gerade weil die Hochkultur nur Atheismus oder
äußerstenfalls strengen Buddhismus duldet, kann in der Alltagskultur
die Religiosität wild wuchern und die seltsamsten Blüten treiben, was
wiederum den Widerwillen der Hochkultur gegen sie verständlich macht.
Ist es in Rußland vielleicht umgekehrt?
Zeigt sich nicht im religiösen Desinteresse der breiten Massen ein Protest
gegen eben jene Form von Religion, die zur Zeit bei einer Karriere weiterhilft?
Und das ist in Rußland immer noch eine hochkulturelle, traditionell
christliche Form. Auch die erwähnte religiöse Subkultur sucht in
Rußland stets von neuem den Anschluß an diese hochkultur, und das
unterscheidet sie von den bewußt anspruchslosen religiösen
Subkulturen im Westen. Freilich wird Rußland in der von Krotow erwähnten
Statistik noch von Frankreich und Tschechien an Religionslosigkeit
übertroffen; in beiden Ländern halten nur 11 % die Religion für
wichtig. Wie erklärt sich das? Über Frankreich kann ich kaum etwas
sagen; ich kenne mich da zu wenig aus. Anders ist es mit Tschechien, wo ich
längere Zeit wissenschaftlich gearbeitet habe. Da habe ich in den letzten
Jahren des Kommunismus immer wieder die gleiche Geschichte erlebt: es erfahren
Menschen in der Opposition zum herrschenden Regime einen großen
religiösen Aufbruch, doch regelmäßig endet dieser Aufbruch in
einer großen Enttäuschung. 11% in Tschechien - welche Fülle von
individuellen Geschichten, ja Tragödien verbirgt sich hinter dieser
trockenen Zahl! Da rebellieren Menschen gegen eine religionsfeindliche Macht,
suchen aber unbewußt in der Religion eine Gegenmacht, die es mit dieser
offiziellen Herrschaft aufnehmen kann. Dadurch aber erhält die neue
Religion die menschenfeindlichen Züge der alten Macht, und so wird
früher oder später ein Punkt erreicht, wo die menschliche Sehnsucht
nach Freiheit sich gegen jede Religion wendet. Werden nun diese tschechischen
11% nicht ein neues Licht auf die 14% in Rußland? Dort ist man ja schon
einen Schritt weiter, dort verbündet sich die alte Garde mit der neuen
Religiosität, und die 14% sind wohl die Quittung dafür.
Doch der Glaube Krotows ist kein Glaube an
eine Gegenmacht, die die herrschende Macht in die Knie zwingen könnte. Es
ist viel mehr der Glaube an einen Gott, der auf die Durchsetzung seiner Macht
verzichtet hat. Es ist der Glaube, daß Gott in der Person von Jesus
Christus zu den Ohnmächtigen hinabgestiegen ist, aber gerade die
stärkste Macht besiegt hat, die es gibt: die Macht des Todes. Dieser
Glaube kann auch in Rußland, in dem die Einheit von Macht und Gegenmacht
heute auf so erschreckende Weise deutlich wird, vor religiöser
Enttäuschung helfen. Denn er schließt das Wissen ein, daß der
Glaube an einen Gott , der die Freiheit des Menschen ganz zu sich selbst kommen
läßt, auch die Kraft gibt, nicht zu erschrecken, wenn auch die
Freiheit zum Mißbrauch des Glaubens größer wird. Freiwillig
auf diesen Mißbrauch zu verzichten, der als Möglichkeit offen steht
- das ist es, worauf es in diesem Glauben ankommt.
Was aber bedeuten solche Erfahrungen für
uns Deutsche? Wenn wir uns daran erinnern wollen, wann einmal für uns der
christliche Glaube allgemein mit der Erfahrung einer großen Befreiung
verbunden war, so müssen wir bis in die Reformationszeit zurückgehen.
Nicht nur Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zeugte damals
von dem Gefühl der religiösen Erneuerung in Deutschland. Was aber
folgte? Die von Luther ursprünglich nicht beabsichtigte Kirchenspaltung
und dann die grausamsten Religionskriege, die es in diesem Land je gegeben
hatte. Der dreißigjährige Krieg (1618 -1648) war schon ein totaler
Krieg im modernen Sinne; so liefen etwa damals auf dem Marktplatz meiner
menschenleeren Heimatstadt Wiesbaden die Hasen herum. Diese Grausamkeit
wurzelte in dem tiefen Glauben an die Hölle, der die Deutschen zur
Reformationszeit prägte. Wenn Gott in der Vorstellung der Menschen so ein
grausamer Tyrann war, daß er Menschen wegen geringster Verfehlungen
für alle Ewigkeit quälte, so konnte eine Reformation kaum gelingen.
Niemand konnte ja wissen, ob sich dieser unberechenbare Gott für die eine
oder die andere Seite entschied, und das führte zu bislang ungeahnten
Ängsten, die die tiefe Ursache für die Religionskriege waren. Und der
Friede nach all diesen Kriegen war für Deutschland ebenso
verhängnisvoll. Es wurde nämlich vereinbart, das fortan die
Fürsten zu entscheiden hatten, ob ihre Untertanen evangelisch oder
katholisch werden sollten. So hatten die Fürsten nicht nur die Macht
über die äußeren Seiten des Lebens, sondern auch über das
persönlichste Gewissen, ja über ihr Seelenheil. Das hatte
katastrophale Folgen: Deutschland wurde nicht nur äußerlich, sondern
auch innerlich zersplittert. Das ständige Zittern vor der Willkür
kleiner Fürsten verhinderte die Entstehung demokratischer Traditionen und
bewirkte genau den Infantilismus, den Bohrer beschrieben hatte. Es ist bekannt,
daß dieser Zustand der Zersplitterung und Einengung gefährliche
Träume provozierte, Träume von einer neuen Weltanschauung, die die
konfessionelle Spaltung überwinden und damit Deutschland neu vereinen könnte,
und Träume von einer militärischen Großmacht. Daß diese
Träume im Nationalsozialismus mündeten und mit ihm scheiterten, ist
ebenfalls offenkundig.
So wollen wir unsere Geschichte am liebsten
vergessen. Daß unsere Kinder nicht mehr wissen, was an Weihnachten
geschah, ist dafür ebenso bezeichnend wie das Phänomen, daß in
den neuen, selbstgemachten Religionsformen die Reinkarnationslehre eine immer
größere Rolle spielt. Wenn ich die Reinkarnation leugne, bin ich in
meinem Bekanntenkreis isoliert. Denn diese Lehre kommt den besonderen deutschen
Wünschen sehr entgegen: sie scheint von der eigenen Geschichte zu befreien
(wenn Deutsche an die Reinkarnation glauben, so schließt das
natürlich ein, daß sie in ihren vergangenen Leben keine Deutschen
waren) und sowohl die Angst vor der Hölle als auch die Angst vor dem
Nichts nach dem Tod zu nehmen. Daß dabei die Einmaligkeit des einzelnen
Menschen auf der Strecke bleibt, wird in Kauf genommen.
Dies alles wird es den Deutschen nicht leicht
machen, sich mit Jakow Krotow zu beschäftigen. Der genaue Blick auf das
gegenwärtige Rußland, den diese Beschäftigung mit sich bringen
würde, könnte einen Schock verursachen. Denn er könnte
plötzlich die Erinnerung an die Zeit vor 500 Jahren wachrufen, in der es
bei uns zwar noch die Erfahrung der Befreiung durch den christlichen Glauben,
aber auch blutige Religionskriege gab. Auch das Phänomen, daß sich
der Staat in die Angelegenheiten der Kirche einmischt, könnte diesen
Schock verstärken. Und doch könnte dieser genaue Blick auch darauf
aufmerksam machen, daß bestimmte Erfahrungen der orthodoxen Kirche uns
helfen könnten, die Fehler der Vergangenheit nicht noch einmal zu
wiederholen. Diese Erfahrungen haben Jakow Krotow entscheidend geprägt.
Daß Krotow keine Neigung zeigt, seine
Mitmenschen zur ewigen Hölle zu verdammen, hat er zwar mit den meisten
westlichen Pfarrern gemeinsam. Doch die Rede von der allumfassenden Liebe
Gottes klingt nicht so abstrakt wie bei uns, weil bei den griechischen
Kirchenvätern, die die orthodoxe Lehre entscheidend beeinflußten,
die Hölle nicht die gleiche Rolle wie im Westen spielte. Bei Katholiken
und Protestanten spielte die Vorstellung eines rächenden, strafenden
Gottes, dem der Mensch durch Grausamkeit nacheifern mußte, eine ganz
andere Rolle. Der Typus des „Gutmenschen“, den Katholiken und Protestanten in
Deutschland gleichermaßen penetrant verkörpern, läßt sich
vor allem durch den Wunsch erklären, die eigene Geschichte mit einem
Schlag hinter sich zu lassen. Die Nachahmung alles Weltlichen in den Kirchen
von heute ist nicht nur Ausdruck eines Komplexes, sondern auch Ausdruck der
Schuldgefühle gegenüber der säkularen Wirklichkeit. In
Rußland aber wandte sich schon ein frühmittelalterlicher Fürst
wie Wladimir Monomach gegen die Todesstrafe, und die erste Ketzerhinrichtung
unter Iwan III. in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war heftig
umstritten. So ist die Verbindung von Religion und Gewalt in Rußland
etwas , historisch gesehen, relativ Neues, was ihr leider auch eine gewisse
Lebenskraft verleiht. Dagegen aber verkörpert gerade Krotow, den die
russischen Traditionalisten wegen seiner Innovationen ablehnen, eine viel
ursprünglichere christliche Tradition; die radikale Ablehnung der Gewalt
im Urchristentum ist bei ihm noch Teil einer lebendigen Überlieferung.
Daß es in der orthodoxen Kirche die
Tradition der geistlichen Väter gibt, hat es auch einem atheistisch
Erzogenen wie Krotow ermöglicht, sich durch seine besondere Beziehung zu
Alexander Men in diese Überlieferung einzuordnen. So bewahrt diese
Tradition in Rußland die Christen von der Geschichtslosigkeit, die im
Westen die Protestanten, aber immer mehr auch die Katholiken bedroht. Freilich
hat solch eine Tradition auch ihre Schattenseiten: Geistliche, die im
Geheimdienst mitgearbeitet hatten, können als geistliche Väter ihre
Machtposition erhalten und üben so noch heute einen nicht geringen
Einfluß auf die Kirche aus. Auch der Patriarch Alexij II. hatte im
Geheimdienst mitgearbeitet, was manches an seiner Haltung zum
Tschetschenienkrieg oder zu anderen christlichen Konfessionen erklärt. So
wurde denn Krotow auch nicht in der Patriarchatskirche, sondern in der
Katakombenkirche zum Priester geweiht.
Steht also Rußland vor einer neuen
Kirchenspaltung? Doch die Tatsache, daß es im christlichen Osten keine
zentrale Kirchenleitung gibt, hat bislang auch den Abspaltungen, die es dort
wie im Westen gab und gibt, ihre Absolutheit genommen. So wurden die
Bischöfe der Katakombenkirche zwar nicht vom Moskauer Patriarchat, aber
vom Patriarchen von Konstantinopel anerkannt. ... Auch im heutigen
Rußland könnte sich noch vieles ändern. Wenn sich die Christen
im Westen den Christen im Osten stärker zuwenden würden, könnten
diese Wandlungen vielleicht früher als geahnt kommen. Gerade der Schock,
den deutsche Gutmenschen dabei erleiden müßten, könnte sie aus
ihrem Infantilismus herausführen. Die Beschäftigung mit Jakow Krotow
könnte dabei in besonderem Maße helfen, daß dies ein heilsamer
Schock wird.
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