Jakow Krotow

 

Asymmetrie des Friedens, 2008.

Georgien den Georgiern?! Pustekuchen! 2008.

Brief an den Präsidenten der Russischen Föderation, 2008.

Translated by Maria Arkadief, artstadt.tk

Verena Flick. Jakow Krotow und die Deutschen, 2001.

Asymmetrie des Friedens

Die imperialistische Propaganda in Russland 1490-1917 wurde auf der Orthodoxie aufgestellt. Nicht die Orthodoxie ist schuld daran, in allen anderen orthodoxen Ländern, Byzantie eingenommen, erzeugte sie keinen Militarismus und keinen Imperialismus.

Imperialistische Propaganda in Russland 1917-1991 wurde auf dem Marxismus aufgestellt. Marx ist nicht schuld daran, gewissermaßen sind so gut wie alle Soziologen der Welt, im Grunde auch die bloßen Intellektuelle, heute Marxisten, doch sie gedenken auch nicht im Entferntesten daran, ein Imperium aufzubauen.

Imperialistische Propaganda in Russland wird seit 1991 auf dem Abkupfern aufgstellt.

Verwende ein potenzieller Gegner den Begriff „Genozid“ - bitte: seitens der Tschetschenier findet ein Genozid der Russen statt, seitens der Juden, das Genozid der Araber, seitens der Georgier das Genozid der Osseten, seitens der Menschenrechtler findet ein Genozid der Milizionäre statt.

Wurde der Begriff „Terrorismus“ in Umlauf gebracht - gerne doch, zumal es nicht das erste mal ist; viele wurden schon 1937, als angeblich einen Anschlag auf Stalin Planenden, erschossen.

„Das Extremismus“ wurde mit gieriger Begeisterung aus den Händen der Weltgemeinschaftentrießen. Fragst du etwa die Regierung, wohin die Steuern fließen? Extremist! Willst du den Bürgermeister, den Oberbürgermeister,

den Hausmeister, selber wählen? Dreifacher Extremist!!!

Man möchte hoffen, dass dieses propagandistische Spiel ihr Höchstmaß in den Ansprachen, welche die Besetzung Abchasiens und Südossetiens hätten übertönen sollen, finden wird. Ihr – Iraq, wir – Georgien. Ihr habt Saddam entthront, wir  Saakaschwilli. Ihr habt Kosovo erobert – wir Abchasien.  

Solches Verhalten ist, natürlich das Merkmal von propagantistischem Unvermögen.

Sie können nichteinmal mehr stehlen, wie man einst die Orthodoxie und den Marxismus für den Militarismus gestohlen hatte. Um die nazistischen Prinzipien direkt und unverhohlen zu verkünden sind sie zu feige.

Militarismus in Russland geht nun genauso vor, wie ein Teenager, welcher nur schlechthin Schach spielen kann und die Züge des Gegners nachmacht, in der Überzeugung, auf diese Weise mindestens das Unentschieden erreichen zu können.

In ... funktioniert diese Methode, übrigens, wenn man den ersten Zug macht und das Kreuz in die Mitte setzen. Doch das Leben kennt eben nur die Kreuzchen. Grabmale in Form von Nullen gibt es nicht. Es gibt auch den Militarismus, welcher hofft das Leben länger genießen zu können, indem es die Anderen ins Grab  mit dem Kreuzchen befördert. Doch so ein Leben ist natürlich nicht als einen Null wert.

Das russische Militarismus übersprang ein Paar Bauern und sind nun ausgesprochen stolz und heiter. Bedeutet dies etwa, dass diese Partie verloren ist?

Nein, tut es nicht. Ein erfahrener Schachspieler wird nur allzuleicht den Burschen einwickeln, der auf den Einfall kommt, symmetrische Züge zu machen. Paradoxalerweise muss man hierfür von dem Spiel der Vernichtung der feindlichen Figuren zum Spiel zur Erhaltung der eigenen Figuren übergehen.

Die Frage ist nur, was man für das Eigene hält. Als England und Frankreich Tschechoslowakei verraten haben, so hielten sie nicht die Tschechen, sonder die Englender und die Franzosen für die „eigenen Figuren“. Ein Irrtum, für dem sie nach vollem Maß bezahlen mussten.

Theoretisch sollte Russland als nächstes auf eines der Pribaltika-Länder zustoßen. Praktisch gesehen ist das ausgeschlossen – weil diese Länder für Europa ganz ihre eigenen geworden sind. Auch Polen kann ruhig schlafen. Die außerhalb der UNO-Gränzen gebliebenen Ukraine, Weißrussland und Aserbaidschan müüsen dagegen unruhig schlafen.

Und schon hat man die Antwort. Es ist also nicht so wichtig, ob die westlichen Länder ihre Streitkräfte in Georgien einführen, wie es wichtig ist, dass die Ersten Georgien in die westlichen, friedlichen Bunde sowie Kriegsallianzen eingliedern.

Darauf kann an natürlich lange warten, wenn es keine, wichtigere, Bewegung geben wird – wenn die in Georgien, in Ukraine, und eigentlich auch in Russland lebende Menschen der eigenen Gesinnung nach  nicht  Europäer werden.

Kreml erhebt den Anspruch, seine Staatsangehörigen verteidigen zu wollen? Seien Sie keine kremelschen Staatsangehörigen, seien Sie Bürger Europas, Weltbürger!

Tagtäglich für das Recht zu sein. Nicht für das Gesetz, für das Recht. Wenn der Unterschied nicht verständlich ist, wird man lange schurten müssen, bis man die Weltbürgerschaft erwerben können wird. 

Tagtäglich für den Vorrang der Persönlichkeit über den Staat, der Freiheit über die Sicherheit, der Gerechtigkeit über die Lüge.

Tagtäglich kein Zyniker,  sonden ein Humanist in jeder Hinsicht zu sein. Tagtäglich ein Pazifist zu sein, nicht etwa indem man den Aggressor befriedet, sondern die Aggression, die Lüge und den Militarismus verurteilend. Indem man verurteilt, nicht indem man schießt.

Das brauchen Russen, brauchen Euroäer. In der Tat, die Schwierigkeit liegt nicht daran, dass sie Angst haben, Georgien in diesem Krieg mit Russland zu helfen, sondern dass sie zu allzuselten Europäer gewesen sind – sowohl Russland, wie auch Georgien gegenüber, und konnten den Krieg nicht abwenden. Wenn doch die Europäer immer europäisch leben würden! Doch auch sie wollten auf die sowjetische Art einsparen, immer wieder auf morgen verschiebend – so ist die Tragödie in Balkan geraten, genauso in Iraq. Ein Krieg ist der Versuch, das aufzuholen, was man versäumt hatte, mit dem Herzen zu tun.

Wenn also die Europäer völlig Europäer sein werden, wenn sie das Bemühen um die Errichtung des Friedens und der Gerechtigkeit, welches man alltäglich darf und muss aufnehmen, nicht mehr, auf die Macht der Waffen hoffend auf morgen verschieben, dann wird man ruhig leben können, ohne sich vor dem Nachäffen des Aggressors fürchten zu müssen. Soll er nur machen – dann muss er von dem Dasein des Aggressors ablassen und zu einem normalen Menschen werden.  Was auch letzten Endes verlangt wird.

Georgien den Georgiern?! Pustekuchen!

Man behauptet, die georgischen Nationalisten seien nun beim Proklamieren des Slogans „Georgien den Georgiern“ angelangt.

Es versteht sich von selbst, dass der Russe darauf nur Eines antworten kann: „Georgien den Russen“. Dies bezieht sich natürlich auch auf die Ukraine.

Es gibt, Gottseidank, keine Tausenden von (mindestens von den Georgiern) Ermordeten. Sonst hätte man längst jede einzelne Leiche aus tausend Blickwinkeln gezeigt. Man ist nun soweit, dass die Kremlpropaganda die Georgier der Verbrennung von getöteten Osseten beschuldigt hatte – „die“  müsse man nicht einmal begraben. Dieses Goldstück wird, denke ich, in die Annalen der Antijournalistik eingehen. „Der Pfaffe besaß einen Hund, diesen tötete er und wurde verboten.“ Des Hundes Grab können wir nicht zeigen. Der Pfaffe hat den Hund verbrannt und die Asche aufgegessen.

Schrecklich ist es, Recht gehabt zu haben, doch 1992 warnte ich davor, womit der Anschlag auf die Gewissensfreiheit und die Freiheit der Wirtschaft enden würde. Und dann, im Jahre 2000, als ich Putin mit Hitler verglich, sagte man mir, es sei eine Übertreibung. Es ist aber eine Untertreibung: Hitler gestattete sich eine solches Hohngelächter, wie Putin, nicht. Hitler war mindestens aufrecht.

Das, was Russland jetzt mit Georgien macht, ist nur eine vergrößerte Wiederholung von dem, was Russland die letzten 15 Jahre mit eigenen Oppositionären machte.

Flegelhafte und schamlose Gewalt, eine noch verlogenere Propaganda als die von Hebbels, Verspottung der Gesetze und selbst der Gabe des Menschen zu sprechen.

Aber wenn all dies mit uns gemacht wird – wir haben es mit schweigendem, manchmal sogar mit nicht schweigendem Einverständnis verdient, in einem rechtswidrigem Staat zu leben, um sich sicher zu fühlen, um in unserer Schande dahinvegetieren zu können. Wenn wir aber das Gleiche unseren Nachbaren antun, ist das keine Schande mehr, sondern ein Verbrechen. Und so schäme ich mich nicht für Russland – dies ist das Privilegium der Unbeteiligten. Ich spüre, dass man mich in ein Verbrechen hineingezogen hat. Es ist das gleiche Gefühl der Hilflosigkeit, wie es auch die haben, welche sich jetzt in Georgien befinden; nur, dass diese Hilflosigkeit nicht die eines Opfers, sondern die eines gezwungenen Mittäters des Verbrechens ist.

 

http://artstadt.ar.funpic.de/html/untitled14.html, 2008

Brief an den Präsidenten der Russischen Föderation

Sehr geehrter Dmitri Anatoljewitsch,

Ich bin ein Bürger dieses Staates, der das Recht hat, seine Führung zu wählen und dementsprechend die Verantwortung für die Handlungen dieser Führung zu tragen hat. Daher bin ich gezwungen, Sie inständig darum zu bitten (ich verwende den Begriff "fordern" nicht, da es Ihren Stolz verletzen könnte), bekannt zu geben, dass Sie den Einmarsch der russischen Streitkräfte nach Georgien bedauern, und deshalb von Ihrem Posten des Präsidenten der Russischen Föderation zurücktreten. Offensichtlich müssen Sie jedoch bis zu den Wahlen des neuen Präsidenten, welche so früh wie möglich durchgeführt werden sollten, auf Ihrem Posten bleiben.

Auch jetzt schon können und müssen Sie die russischen Streitkräfte bis zum letzten Soldaten aus Georgien entfernen, sowie die Entscheidung, die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anzuerkennen, zurückziehen.

Auch jetzt schon, meiner Meinung nach, sind Sie verpflichtet, den Regierungschef Putin, sowie alle politisch und militärisch führenden Kräfte des Landes, welche die Invasion in Georgien vorbereitet, die propagandistischen Desinformationen über die "Agression Georgiens", über den "Völkermord" verfasst haben, zu verabschieden.

Auch jetzt schon können und müssen Sie die Auszahlung der Entschädigung für den Schaden, welchen die Invasion Russlands in Georgien dem Georgischen Staat und den Staatsbürgern Georgiens zugefügt hat, die Entschädigungen der Angehörigen der Opfer, die seit dem 1. August bis jetzt umgekommen sind, der ethnischen Osseten wie der Georgier eingenommen - kurz gesagt, aller zu Schaden gekommenen, in die Wege leiten.
 

Ich traue mich nicht, Ihnen den Vorschlag zu machen, die Hilfsaktionen an alle, welche während der letzten zwanzig Jahren gezwungen wurden, aus Abhasien und Südossetien der andauernden Gewalt wegen zu fliehen, zu organisieren. Hilfe bei der Rückkehr in die Heimat, die Rückgabe der Häuser und der Wohnungen, des Eigentums. Offensichtlich muss sich der russische Staat auch hier auf die finanzielle Entschädigung begrenzen.

Es versteht sich, dass Sie sich auch jetzt schon an den Rat der Vereinten Nationen wenden können und müssen, anerkennend, dass nur diese Organisation die nötige Kompetenz besitzt, um die Ausmaße der Entschädigungen, welche unser Land verpflichtet ist auszuzahlen, sowie die Zusammensetzung der Friedenstruppen (unter dem natürlichen Ausschluss russischer Kräfte), welche Georgien helfen sollen, den Frieden im eigenen Land wiederherzustellen, zu bestimmen. Ich glaube, dass es durchaus vernünftig und moralisch vertretbar wäre, schon im Vorraus auf das Recht der Mitbestimmung bei jeglichen, mit Georgien zusammenhängenden Fragen zu verzichten.

Mit freundlichen Grüßen,

Jakov Gawrilowitsch Krotov


 

Verena Flick

JAKOW KROTOW UND DIE DEUTSCHEN

„Mein Name ist Jakow Krotow...Ich lebe in Moskau seit meiner Geburt 1957.

Ich bin Christ und verheiratet (meine Frau Irina ist, so weit ich weiß, die schönste Frau der Welt.)

Ich habe zwei Söhne. Mark (geb. 1977) und Matwej (geb.1980). Ich bin Journalist (das bringt mir Geld) und ich bin ein Kirchenhistoriker ( das nimmt mein Leben in Anspruch). Ich bin russisch - orthodox, das bedeutet für mich, daß ich es als möglich und notwendig ansehe, Christen nicht nur in der östlichen Orthodoxie zu begegnen, sondern genau so gut in der römisch - katholischen Kirche und - mit mehr Anstrengungen - unter den Protestanten oder den Christen außerhalb der Konfessionen.“

Mit diesen Worten stellt sich Krotow im englischen Teil seiner Website den Lesern vor. Diese Information ließe sich noch vervollständigen.

...

Auf [Krotows] Homepage findet man eine umfangreiche Bibliothek zu Themen des Christentums in Geschichte und Gegenwart, und das „Tagebuch eines Literaten“, in dem Krotow treffsicher und oft ironisch Tagesereignisse kommentiert. Er ist Sohn eines russischen Vaters und einer jüdischen Mutter., beide Eltern waren Lehrer. Der Vater war ein Kommunist, der aus Idealismus mit den staatlichen Repräsentanten dieser Lehre in Konflikt geriet und dafür mit langjähriger Haft bezahlen mußte. Von zentraler Bedeutung aber wurde sein geistlicher Vater für ihn, der Priester Alexander Men, der in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Moskau wirkte, die aber in den letzten Jahren der Sowjetunion immer häufiger von den Intellektuellen der Hauptstadt besucht wurde. Den „Missionar des Stammes der Intellektuellen“ - so hat man Men genannt. Doch gerade durch die Offenheit und Menschenfreundlichkeit des von ihm verkörperten Christentums machte sich Alexander Men auch Feinde, vor allem in den Kreisen der Kirche, die den Geheimdiensten nahestanden. Ihnen war schon die jüdische Herkunft Mens ein Dorn im Auge, und seine Toleranz gegenüber den westlichen Christen erweckte vollends das Mißtrauen jener Kreise. Alexander Men wurde im September 1990 hinterrücks mit einer Axt erschlagen, und den Mörder hat man bis heute nicht gefunden. Die Indizien, daß Geheimdienste da eine Rolle gespielt haben könnten, sind freilich stark. ...

Dies sind wenige Informationen, und dennoch enthalten sie Behauptungen, die in den deutschen Lesern manche Fragen erwecken könnten. ... Was ist ein geistlicher Vater? Wie kommt eine ganze Bibliothek auf eine private Homepage?

Es wäre leicht, die Mißverständnisse Punkt für Punkt auszuräumen. Doch würde man dann auch verstehen, warum sie entstehen konnten? Für den deutschen Leser ist die Begegnung mit einer Persönlichkeit wie Jakow Krotow nicht zuletzt deshalb so interessant, weil es vergleichbare Erscheinungen bei uns überhaupt nicht gibt. Die besondere Situation der Kirchen in Deutschland wird durch die Konfrontation mit dem Andersartigen blitzartig erhellt. Es ist die Zeit, in der der Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten, der für die deutsche Geschichte eine so zentrale Bedeutung hatte, immer geringer wird. Noch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten erweckte das Wort „Mischehe“ Assoziationen an innerdeutsche Familientragödien. Heute versteht man unter Mischehen ganz eindeutig Ehen zwischen Deutschen und Muslims oder Angehörigen anderer Religionen.

Diese neue Einigkeit ist aber mit einem hohen Preis erkauft worden: dem Vergessen der christlichen Tradition. Auf einem Klassentreffen erzählte vor kurzem eine meiner Mitschülerinnen, die als Deutschlehrerin arbeitet, ihre Schüler könnten die klassische deutsche Literatur nicht mehr verstehen, weil es in ihr zu viele Anspielungen auf Bibel und Christentum gäbe. Diese Lehrerin unterrichtet nicht etwa in der ehemaligen DDR, sondern im westdeutschen Ingelheim, einer Stadt in einem traditionell katholischen Weinbaugebiet, wo die meisten Menschen noch nicht aus der Kirche ausgetreten sind. So wurde also in Westdeutschland ohne Gewalt ein Zustand erreicht, der in Rußland nur durch jahrzehntelange gewaltsame Unterdrückung der Kirchen bewirkt werden konnte. Statistisch ist dies bestätigt: laut einer Umfrage haben 39% der Kinder in Westdeutschland noch nicht einmal eine Ahnung, worum es an Weihnachten geht, von den ostdeutschen Kindern ganz zu schweigen.

Der entscheidende Unterschied zwischen dieser Situation in Rußland und in Deutschland besteht aber auch darin, daß bei uns zwar einige Menschen darunter leiden, sie aber in der Öffentlichkeit kaum etwas zu sagen haben. In Rußland aber wäre die gesamte Gegenwartskultur nicht denkbar ohne das Leiden am Verlust der Tradition. Daß Privatpersonen sich die Zeit und Mühe machen, ganze Bibliotheken ins Internet zu setzen, ohne dafür irgendwie entlohnt zu werden, erscheint uns wie eine Verschwendung von Arbeitskraft, zumal bei uns so etwas aus urheberrechtlichen Gründen kaum möglich wäre. Auch die Wiederbelebung einer orthodoxen Tradition, in der der Priester gleichsam Vaterstelle an seinen Gemeindegliedern ausübt, hängt mit dem Wunsch zusammen, die zerrissene Kette der Überlieferungen wiederherzustellen.

Warum aber empfindet man bei uns das Zerreißen der Kette nicht als Katastrophe, sondern eher als Wohltat, und warum gibt es keinen Widerstand in den Kirchen dagegen? „ Diese Woche wurde eine Untersuchung des Davoser "World Economic Forum" bekannt, die erfragte, welches Ansehen bestimmte Institutionen in 47 Ländern haben. Nur in einem einzigen Land auf der Welt ist die Kirche danach nicht im vorderen Feld plaziert, nur in einem einzigen Land liegt die Kirche auf dem letzten Platz: in Deutschland.“ So schrieb unlängst Florian Illies in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, in dem Aufsatz „Kein feste Burg ist uns die Kirche.“ Welche Kirche meint er damit? Wie es für Deutschland typisch ist: beide Großkirchen, die evangelische und die katholische zugleich. Denn stärker als alle immer noch bestehenden trennenden Elemente wirkt auf den Außenstehenden der gemeinsame Lebensstil. Was stört Illies nun an diesem Lebensstil? Das sagt schon der Untertitel: „Die Kirchen kuscheln sich mit Anbiederung ins Abseits.“ Der Autor kritisiert nicht etwa, daß sich die Kirchen zu weltfremd sind, wie das allgemein üblich ist, sondern im Gegenteil, daß sie sich zu sehr anpassen. Wörter wie „kuscheln“ oder „Anbiederung“ zeugen auch davon, daß den Autor nicht nur das Was, sondern auch das Wie der Anpassung beider Kirchen an die Welt stößt. Die ganze Ängstlichkeit, die unfreiwillige Infantilität, die für unsere kirchliche Atmosphäre so charakteristisch ist, kommt in diesen beiden Wörtern zur Sprache. Konkret sieht das folgendermaßen aus: „Wer liest, wie stolz die EKD-Synode[1] gerade mitteilen ließ, daß sie auf ihrer Herbsttagung in Timmendorfer Strand bei der Morgenandacht Herbert Grönemeyers Lied "Mensch" gespielt habe, der merkt, daß man dort immer noch fest überzeugt ist, daß man nur immer mehr Nummer-1-Hits spielen muß, damit man vom letzten Platz in der Anerkennungsskala von Davos verschwindet. Das Synodenmitglied Christel Ruth Kaiser erklärte, das beste an dem Lied sei, daß es um "menschliche Gefühle" geht und daß "Grönemeyer nicht predigt". Schöner ließe sich nicht demonstrieren, wie sehr sich eine Kirche, die sich immer mehr mit der Welt verständigt, am Ende auch den Bewertungsmaßstäben der Welt unterzieht - und dann schließlich die urchristliche Kommunikationsform der Verkündigung, die Predigt, als negatives Verfahren brandmarkt.“

Hier wird deutlich sichtbar, wodurch die Kirchen bei uns einen großen Teil der Bevölkerung abschrecken. Das, was für die meisten Menschen banaler Alltag ist, wird von den praktizierenden Christen so bestaunt, wie ein Kind die Erwachsenenwelt anstaunt, zu der es noch nicht ganz zugelassen ist, in die es aber einmal hineinwachsen wird. Es ist das typische Minderwertigkeitsgefühl der Kinder gegenüber den Erwachsenen, die so viel mehr können und dürfen als sie selbst und die man deshalb auch nicht kritisieren kann.

Illies ist noch höflich: er verschweigt, daß jene Christel Ruth Kaiser die Morgenandacht für die gesamte Synode gehalten hat und dabei anstelle eines Bibeltextes den Text des Hits Nr. 1 interpretiert hat. Er verschweigt auch, daß anschließend an alle Synodalen eine CD mit diesem Hit verteilt wurde. Und er führt der Gerechtigkeit halber auch ein katholisches Beispiel an. Da es mir aber als nicht so charakteristisch wie das protestantische erscheint, möchte ich es durch ein anderes ersetzen. Da hat der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes doch tatsächlich mit jenen Meßgewändern, die der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch im Rahmen seines Orgien -Mysterientheaters mit dem Blut von auf der Bühne geschlachteten Schafen bespritzte, normale Messen gefeiert. Dadurch wollte er sich nicht etwa der blasphemischen Haltung dieses Künstlers anschließen, dem die offizielle Kirche im wahrsten Sinne des Wortes zu blutleer war. Noch weniger wollte er die durch die Blasphemie geschändeten Meßgewänder wieder neu weihen. Seine Absicht war klar: er wollte den ihm anvertrauten Katholiken die moderne Kunst als solche nahebringen. Dadurch ist die Art seines Handelns der von Christel Ruth Kaiser verwandt: hier wie dort wird Nachhilfeunterricht in Sachen Modernisierung gegeben, und erwachsene Menschen werden wie Schüler behandelt. Der Unterschied zwischen Hochkultur und populärer Kultur ist demgegenüber zweitrangig.

Die Problematik eines Ruhms in der Art von Grönemeyer, der den Sänger dazu gezwungen hat, den Tod von Ehefrau und Bruder in aller Öffentlichkeit vermarkten zu müssen, die Problematik des Blutdursts von Hermann Nitsch - sie werden von kirchlicher Seite überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Das heißt nicht, daß die Kirchen in Deutschland der ganzen Welt gegenüber unkritisch seien. Ganz im Gegenteil - Christen sind meist sehr engagiert, wenn es um den Kampf gegen das Böse in der Welt geht, gegen den Krieg ebenso wie gegen die Ausbeutung der armen Länder, gegen die Ausgrenzung von Obdachlosen und Behinderten und was es sonst noch an schlimmen Dingen gibt. Gerade durch die Art und Weise, in der Christen in Deutschland zeigen, daß sie keine anderen Wünsche haben als nur den, das Leid in der Welt zu lindern, erregen sie das Mißtrauen der Intellektuellen. „Gutmensch“ - mit diesem Neologismus hat Kurt Scheel, einer der Herausgeber der unter Intellektuellen sehr angesehenen Zeitschrift „Merkur“ die Geschichte der deutschen Sprache verändert. Das Wort machte unter Intellektuellen eine große Karriere. Karl Heinz Bohrer, emeritierter Germanistikprofessor und als Mitherausgeber des „Merkur“ ein unter der Intelligenzia hochangesehener Mann, hat diesen Typus stets genau charakterisiert, immer wieder definiert, was unter diesem „Gutmenschen“ gemeint wird, zuletzt im November dieses Jahres im Aufsatz „Auf deutschen Wegen“: Für ihn ist gerade die Friedfertigkeit der Deutschen, die sogar während des Zweiten Weltkriegs vom amerikanischen Geheimdienst bestätigt wurde, die Wurzel allen Übels und seiner Meinung nach die Hauptursache für den Nationalsozialismus: „Wer sich heute Wochenschaubilder und Fotografien mit Gesichtern von den begeisterten Zuschauern, die den Führer grüßen, anschaut, dem fällt angesichts ihres Ausdrucks eine Reihe von emotionellen Qualifizierungen ein. Die wichtigste davon ist: nicht Hysterie, sondern Naivität. Es ist die Naivität, die das erwähnte Frösteln macht, denn man kann unter diesem Wort eine Reihe psychologischer Defizite einreihen: eine Kindlichkeit, die Undifferenziertheit meint, eine Begeisterung, die Mangel an Individualität impliziert, ganz zu schweigen von jenen Eigenschaften, die hier nicht mehr anwesend sind, aber zu einer zivilisierten Gesellschaft gehören: Ironie, Distanz zum Anderen, Geschmack, aber auch Zivilcourage und vor allem Gefühl für das Relative jedes Standpunkts“.

Freilich können Ausländer, die im deutschen Alltag nach den Spuren dieser Geisteshaltung suchten, nur sehr schwer fündig werden. Denn nur die ganz Alten sind in Deutschland gegenüber dieser Art von Idylle nicht allergisch, und so versucht man, die Neigung zu ihr auch dann nach außen zu verbergen, wenn man sie insgeheim pflegt. Es gibt nur einen Ort, wo diese Mentalität ganz ungeniert zutage tritt, und das sind die Kirchen. Weil der Ballast der Vergangenheit, den die meisten Deutschen schon abgeworfen zu haben glauben, bei ihnen noch sichtbar ist, werden sie gesellschaftlich gemieden. Dabei sind sich die Kirchen meist völlig unbewußt, wieviel von diesem Ballast noch bei ihnen herumliegt; Menschen mit kirchlichem Engagement distanzieren sich meist noch stärker von der nationalsozialistischen Vergangenheit als andere. Gerade darum ist es nicht unwahrscheinlich, daß Bohrer vor allem die Kirchenbesucher im Auge hat, wenn er den Verdacht hegt, „...daß man sehr wohl politische Ansichten und Handlungen sehr schnell ändern kann, offenbar aber nicht sehr tief verankerte Mentalitäten.“ Kirchenbesucher unterscheiden sich von den anderen auch dadurch, daß ihre Elternbindung stärker als bei den anderen ausgeprägt ist.

Gerade darum gibt es in Deutschland zur Zeit niemanden, den man mit Jakow Krotow vergleichen könnte. Daß jemand so offen über seine Erfahrungen mit dem christlichen Glauben spricht, ohne die geringste Angst, sich damit zu blamieren - das findet man hier höchstens in bestimmten sektiererischen Kreisen. Das Internet - Tagebuch Krotows zeigt aber gerade jene Eigenschaften, die Bohrer an den Ausländern so sehr schätzt: „...Ironie, Distanz zum Anderen, Geschmack, aber auch Zivilcourage und vor allem Gefühl für das Relative jedes Standpunkts.“ So dürfte also Bohrer von Krotow begeistert sein? Wohl kaum, und das nicht nur, weil dessen dezidierter christlicher Glaube den bekennenden Atheisten Bohrer befremden müßte. Es könnte vor allem deshalb kaum zu einem Einverständnis zwischen Bohrer und Krotow kommen, weil Bohrer nicht verstehen kann , daß ein Menschen, der nicht nur kein Deutscher ist, sondern die von Bohrer so geschätzten Eigenschaften in besonderem Maße besitzt, gleichwohl für den Frieden kämpft. Bohrer ist nämlich bekennender Bellizist, der die Westmächte dafür regelmäßig lobt, daß sie auch Angriffskriege wagen - so zeigte er beim Falkland - Krieg regelrechten Enthusiasmus. Daß ein Mensch gegen den Krieg ganz anders als ein durchschnittlicher deutscher Gutmensch schreiben kann, wird er wohl nur schwer verstehen. Denn die Kehrseite des Hasses auf die deutsche Idylle war nicht erst seit Bohrer die Idealisierung von Gefahr und Gewalt. „Wer den Spieß umdreht, klebt an ihm“ - dieses Wort des österreichischen Historikers Friedrich Heer gilt für deutsche Intellektuelle dieses Typs in besonderem Maße.

Krotow aber kümmert sich nicht um die falsche Alternative zwischen Idylle und Anti-Idylle. Er geht von der konkreten Situation aus, sich in einem Land zu befinden, das in Tschetschenien einen realen Krieg mit furchtbaren Menschenrechtsverletzungen führt. Diese Tatsache wird von den Medien vertuscht; daher gibt es zur Zeit auch so viele Eingriffe in die russische Pressefreiheit. Nun beobachtet Krotow genau, wie der Widerstand gegen diese Eingriffe nicht zuletzt deshalb so schwach ist, weil sie alten Gewohnheiten entgegenkommen, die die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion entwickelt hatten. Immer wieder zeigt er in seinen Tagebüchern, wie der „Sowok“ auch heute noch weiterlebt. (Mit diesem Wort, das ursprünglich „Handschaufel“ bedeutet, wird im heutigen Rußland auf ironische Weise jener Menschentyp bezeichnet, der die sowjetischen Gewohnheiten noch nicht abgelegt hat.) Das Sich -Verlassen auf einen starken Staat hat auch zum Mangel an Mißtrauen gegenüber der offiziellen Informationspolitik geführt. Das mindert die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Tatsache, daß sich Rußland zur Zeit in einem sehr brutalen Krieg befindet, und das, obwohl auch die Zahl der russischen Toten ständig wächst.

Krotow aber kommt es vor allem darauf an, daß die Menschen diese Wahrnehmungsfähigkeit wiedergewinnen. Zur Hilfe kommt ihm dabei sein nicht alltägliches Sprachgefühl. In der Sprache des russischen Alltags, in dem Jargon der Journalisten, in offiziellen Verordnungen und im inoffiziellem Gerede und immer wieder in der Sprache der Kirchen geht Krotow den Spuren des „Sowok“ nach, der das, was in Tschetschenien wirklich geschieht, so stark vertuscht. Und dabei zitiert er immer genau und nennt dabei konkrete Namen. Diese Nennung der einzelnen Menschen - das ist es vielleicht, was die Sprache Krotows am stärksten von der Sprache der kirchlich orientierten Gutmenschen in Deutschland unterscheidet. Es gibt vor allem deshalb bei uns niemand, der mit Krotow vergleichbar wäre, weil unseren Kirchen vor allem eines fehlt: der Streit. Daß beide großen Kirchen zur Zeit Werbeagenturen einschalten, um ihr Image aufzupolieren, läßt sich nur verstehen, wenn man davon ausgeht, daß niemand so recht einsieht, warum die Kirchen Streit brauchen. Eine erfolgreiche Werbekampagne hätte ja zur Folge, daß die Kirchen ein neues , glanzvolles Image bekämen, das nicht befleckt werden darf, um der corporate identity nicht zu schaden. Der lebendige Streit in der Art von Krotow, der nicht scheut, einzelne Namen zu nennen, wäre dann vollends ausgeschlossen.

Daß der Trend in Richtung corporate identity stärker wird, zeigt sich an der Art und Weise, in der die Kirchen Mißstände in der Gesellschaft kritisieren. Bei uns richtet sich diese Kritik meist gegen anonyme Gruppen, und auch die Menschen, die durch solche Kritik verteidigt werden sollen, treten meist im Plural auf, etwa Kriegsopfer, Behinderte, Obdachlose oder Asylbewerber. Dieses allgemeine Reden über Gruppen erweckt vor allem bei den Intellektuellen Aggressionen gegen die Angehörigen dieser Gruppen, obwohl sie doch nichts dafür können, daß sie in der Sprache der Gutmenschen so pauschal behandelt werden. Kritik an Einzelnen gibt es dagegen in kirchlichen Kreisen meist nur bei extremem Verhalten, wie etwa bei der Pädophilie einiger Priester.

Krotow aber zeigt gerade durch seine Kritik, daß er den Einzelnen ernst nimmt. Für ihn ist der christliche Glaube ja vor allem deshalb so befreiend, weil er ihm die Augen dafür geöffnet hat, daß jeder Mensch eine einmalige, unverwechselbare Persönlichkeit ist. Dem versucht er, in seiner Sprache gerecht zu werden. Mit den Stilmitteln der Ironie wird der Zusammenprall des Einzelnen und des Allgemeinen genau wiedergegeben ;die Ausflüchte der einzelnen Menschen bei der Angst vor der eigenen Freiheit werden herausgearbeitet. Diese Sensibilität für alles, was den Menschen unfrei macht, ist aber die Kehrseite der grundlegenden Erfahrung Krotows, daß der christliche Glaube für ihn vor allem eines ist: Befreiung.

In jeder Ausgabe von Krotows Internet - Tagebuch findet sich die Rubrik „Neues von Christus.“ Da vertieft sich der Autor in jeweils einen Abschnitt des Evangeliums, und läßt sich stets von neuem von ihm überraschen; immer wieder entdeckt er Unerwartetes, durch das er sich befreit fühlt. Und das ist es gerade, was seinen Glauben von den Glaubensformen unterscheidet, die bei uns in Deutschland üblich sind. Denn auch die meisten Gläubigen fassen den Glauben nicht als das Neue, sondern als das Altbewährte auf, das es nicht ganz aufzugeben gilt, und im allgemeinen erwartet man von dem Glauben nicht Befreiung, sondern Einschränkung jener Willkür, die man bei uns immer noch als Übermaß von Freiheit mißversteht. So schicken auch Eltern, die noch keine Kirche von innen gesehen haben, ihre Kinder in den Religionsunterricht, damit sie etwas Moral lernen. Deshalb nimmt man auch den Glauben bei uns nicht sonderlich ernst.

Krotow aber muß seinen Glauben auch deshalb so ernst nehmen, weil er ihm so ungeahnte Perspektiven der Freiheit eröffnet hat. Er kann die Augen nicht davor schließen, daß die Freiheit zum Guten notwendigerweise die Freiheit zum Bösen einschließt. Hier kann man erkennen, wie nahe Krotow dem russischen Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew steht, für den die Frage nach der Theodizee, nach dem Ursprung des Bösen in der Welt eng mit der Frage nach der Freiheit verbunden war. Gott will die freie Liebe des Menschen, und nur deshalb verhindert er das Böse nicht. Denn wäre der Mensch so geschaffen, daß er nur Gutes tun könnte, müßte er ja einem inneren Zwang gehorchen, und dies würde diese Liebe unmöglich machen. Jeder Fortschritt der Menschheit in der Erfahrung der Freiheit bringt so auch den Fortschritt in der Möglichkeit zum Bösen mit sich, und das gilt im besonderem Maße für das Gebiet des Glaubens. Deshalb kämpft Krotow auch so stark gegen jede Form religiöser Unterdrückung, gegen alle Versuche, aus der orthodoxen Kirche eine Staatskirche zu machen. Die obskursten Sekten verteidigt er mit großem Engagement, wenn Staat und Kirche sie verbieten wollen, und die Unterdrückung der russischen Katholiken stößt bei ihm auf solche Gegenwehr, daß seine Gegner ihm schon nachsagen, er sei ein Uniierter. Denn es gehört zum Kern seines Glaubens, daß er jede Form von aufgezwungenem Glauben als wertlos ansieht, weil sie nicht der freien Liebe zwischen Gott und den Menschen entspringt.

Daß zur Glaubensfreiheit auch die Freiheit zum Mißbrauch des Glaubens untrennbar gehört, hat Krotow im gegenwärtigen Rußland unmittelbar erfahren müssen. Wir in Deutschland können uns kaum vorstellen, was für einen Aufbruch des christlichen Glaubens es nach dem Ende des alten Regimes in Rußland gegeben hatte. Daß dieser Aufbruch von Intellektuellen, Künstlern und Jugendlichen getragen wurde, also genau von jenen Gruppen, die bei uns aus den Kirchen so gut wie ausgeschlossen sind, gibt ihm seinen besonderen Charakter. Die Freiheit und Offenheit, mit der Krotow über seine Glaubenserfahrungen spricht, zeugt von der besonderen Atmosphäre dieses Aufbruchs. Doch das Schicksal von Krotows geistlichem Vater Alexander Men hat auch gezeigt: wenn sich Rechtsradikalismus mit etwas verbindet, was für den christlichen Glauben gehalten wird, wächst auch die Bereitschaft, aus Glaubensgründen zu morden. Wenn sich nun gar diese Glaubensformen mit den destruktiven Energien der Leute von den ehemaligen Geheimdiensten verbinden, so entsteht etwas, von dem hier geglaubt wird, daß es schon ganz und gar ausgestorben sei.

Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist dabei, daß nicht nur die ewig Gestrigen in Rußland an ihr teilhaben. Gerade unter Jugendlichen, Künstlern und Intellektuellen ist eine religiöse Subkultur im Entstehen, in der sich Satanismus und die Verehrung orthodoxer Riten auf eine seltsame Weise miteinander verbinden. Ebenso seltsame Allianzen geht diese Subkultur mit den alten Garden der Sowjetunion ein, deren Mangel an Moral sie in besonderem Maße anzieht. Bekanntlich warnte Dostojewskij seinerzeit vor einem radikalen Atheismus mit den Worten: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.“ Heute aber ist in Rußland eine Situation eingetreten, für die ein Satz charakteristisch ist, den ich schon zwei Mal im russischen Internet gefunden habe: „Wenn es einen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.“ Diese religiöse Subkultur geht nun Verbindungen mit den rechtskonservativen Kräften ein, denen sie frisches Blut zuführt und ihnen so zu einem Schein des Lebens verhilft. Andererseits wurden Leute von den alten Garden der Sowjetunion, die mit immer größerem Erfolg zurück an die Macht streben, plötzlich gläubig . So verbündeten sich die Kräfte des Alten und des Neuen, um alle ethischen Normen so weit wie möglich aufzulösen.

Das hat zu einer Entwicklung geführt, die im Tschetschenienkrieg kulminierte. Der Patriarch, der die Waffen segnet - dieses Bild erleuchtet wie ein Brennspiegel all das, was in Rußland zur Zeit eine katastrophale Entwicklung nimmt. Es wirft zugleich auf all das ein Licht, was Jakow Krotow bekämpft. Liest man in diesem Licht Krotows Texte werden manche, die von den über die Deformationen des religiösen im russischen Internet zwar erschrocken, insgeheim aber ein wenig fasziniert sind, einige Enttäuschungen erleben. Denn das Böse verliert bei ihm seine Faszinationskraft und zeigt seine kleinen, häßlichen Züge. Keine Subkultur der Welt könnte von den Menschen, die Krotow so genau beobachtet, auf irgendeine Weise angeregt werden. Denn das Böse fasziniert im allgemeinen ja nur wegen der mit ihm verbundenen Überschreitung der Grenzen des Individuellen. Sieht man ihm aber genau in die Augen, dann wird seine individuelle Brechung sichtbar, und so verliert es seinen überindividuellen Glanz. Die Kraft, so genau auf die unattraktiven Seiten des Bösen zu blicken, schöpft Krotow aber aus seinem Glauben, daß der Mensch sich deshalb nicht zwingen muß, unablässig seine Grenzen zu überschreiten, weil Gott selbst in Jesus Christus in die Welt der Begrenzungen herabgestiegen ist.

Diese Freiheit, mit der Krotow über seinen Glauben spricht, gibt mir Hoffnung, daß es mit dem großen religiösen Aufbruch in Rußland, der mich anfangs so fasziniert hat, noch nicht zu Ende ist, daß er noch nicht ganz und gar durch das Zusammenspiel von alten Garden und neuer religiöser Subkultur in eine zerstörerische Richtung gelenkt worden ist. Doch dann führt Krotow selbst Zahlen an, die mich stutzen lassen. In ihnen ist von einer Umfrage die Rede, bei der es um die Frage ging, welche Rolle die Religion in den einzelnen Ländern spielt. Einsame Spitze ist da Senegal mit 97% der Befragten, für die Religion wichtig ist. In den USA sind es immerhin noch 53%, doch wenn es nach Europa geht, nimmt das Interesse an Religion rapide ab. In Großbritannien sind es immerhin noch 33%, in Deutschland erwartungsgemäß nur 20 %. Aber dann kommt die große Überraschung: in Rußland sind es nur noch 14%! Ausgerechnet in Rußland, wo sich, glaubt man dem Internet, den Zeitungen und Zeitschriften, zur Zeit alles um religiöse Fragen dreht! Und wir Deutschen, bei denen ein Mensch mit auffallender Religiosität kaum Karriere machen könnte, sind diesen Russen um sechs Prozentpunkte voraus!

Freilich: wenn ich mich in meinem Bekanntenkreis umsehe, so kann ich verstehen, warum unsere Prozentzahl ganz so niedrig nun doch nicht ist. In einem Land, in dem bei evangelischen Synoden auf Popmusik-Texte gepredigt wird und ein Medium für 15 Euro pro Sitzung mit einem Engel namens Emanuel redet, kann jeder mit seinem religiösen Gefühl machen, was es will. Gerade weil die Hochkultur nur Atheismus oder äußerstenfalls strengen Buddhismus duldet, kann in der Alltagskultur die Religiosität wild wuchern und die seltsamsten Blüten treiben, was wiederum den Widerwillen der Hochkultur gegen sie verständlich macht.

Ist es in Rußland vielleicht umgekehrt? Zeigt sich nicht im religiösen Desinteresse der breiten Massen ein Protest gegen eben jene Form von Religion, die zur Zeit bei einer Karriere weiterhilft? Und das ist in Rußland immer noch eine hochkulturelle, traditionell christliche Form. Auch die erwähnte religiöse Subkultur sucht in Rußland stets von neuem den Anschluß an diese hochkultur, und das unterscheidet sie von den bewußt anspruchslosen religiösen Subkulturen im Westen. Freilich wird Rußland in der von Krotow erwähnten Statistik noch von Frankreich und Tschechien an Religionslosigkeit übertroffen; in beiden Ländern halten nur 11 % die Religion für wichtig. Wie erklärt sich das? Über Frankreich kann ich kaum etwas sagen; ich kenne mich da zu wenig aus. Anders ist es mit Tschechien, wo ich längere Zeit wissenschaftlich gearbeitet habe. Da habe ich in den letzten Jahren des Kommunismus immer wieder die gleiche Geschichte erlebt: es erfahren Menschen in der Opposition zum herrschenden Regime einen großen religiösen Aufbruch, doch regelmäßig endet dieser Aufbruch in einer großen Enttäuschung. 11% in Tschechien - welche Fülle von individuellen Geschichten, ja Tragödien verbirgt sich hinter dieser trockenen Zahl! Da rebellieren Menschen gegen eine religionsfeindliche Macht, suchen aber unbewußt in der Religion eine Gegenmacht, die es mit dieser offiziellen Herrschaft aufnehmen kann. Dadurch aber erhält die neue Religion die menschenfeindlichen Züge der alten Macht, und so wird früher oder später ein Punkt erreicht, wo die menschliche Sehnsucht nach Freiheit sich gegen jede Religion wendet. Werden nun diese tschechischen 11% nicht ein neues Licht auf die 14% in Rußland? Dort ist man ja schon einen Schritt weiter, dort verbündet sich die alte Garde mit der neuen Religiosität, und die 14% sind wohl die Quittung dafür.

Doch der Glaube Krotows ist kein Glaube an eine Gegenmacht, die die herrschende Macht in die Knie zwingen könnte. Es ist viel mehr der Glaube an einen Gott, der auf die Durchsetzung seiner Macht verzichtet hat. Es ist der Glaube, daß Gott in der Person von Jesus Christus zu den Ohnmächtigen hinabgestiegen ist, aber gerade die stärkste Macht besiegt hat, die es gibt: die Macht des Todes. Dieser Glaube kann auch in Rußland, in dem die Einheit von Macht und Gegenmacht heute auf so erschreckende Weise deutlich wird, vor religiöser Enttäuschung helfen. Denn er schließt das Wissen ein, daß der Glaube an einen Gott , der die Freiheit des Menschen ganz zu sich selbst kommen läßt, auch die Kraft gibt, nicht zu erschrecken, wenn auch die Freiheit zum Mißbrauch des Glaubens größer wird. Freiwillig auf diesen Mißbrauch zu verzichten, der als Möglichkeit offen steht - das ist es, worauf es in diesem Glauben ankommt.

Was aber bedeuten solche Erfahrungen für uns Deutsche? Wenn wir uns daran erinnern wollen, wann einmal für uns der christliche Glaube allgemein mit der Erfahrung einer großen Befreiung verbunden war, so müssen wir bis in die Reformationszeit zurückgehen. Nicht nur Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zeugte damals von dem Gefühl der religiösen Erneuerung in Deutschland. Was aber folgte? Die von Luther ursprünglich nicht beabsichtigte Kirchenspaltung und dann die grausamsten Religionskriege, die es in diesem Land je gegeben hatte. Der dreißigjährige Krieg (1618 -1648) war schon ein totaler Krieg im modernen Sinne; so liefen etwa damals auf dem Marktplatz meiner menschenleeren Heimatstadt Wiesbaden die Hasen herum. Diese Grausamkeit wurzelte in dem tiefen Glauben an die Hölle, der die Deutschen zur Reformationszeit prägte. Wenn Gott in der Vorstellung der Menschen so ein grausamer Tyrann war, daß er Menschen wegen geringster Verfehlungen für alle Ewigkeit quälte, so konnte eine Reformation kaum gelingen. Niemand konnte ja wissen, ob sich dieser unberechenbare Gott für die eine oder die andere Seite entschied, und das führte zu bislang ungeahnten Ängsten, die die tiefe Ursache für die Religionskriege waren. Und der Friede nach all diesen Kriegen war für Deutschland ebenso verhängnisvoll. Es wurde nämlich vereinbart, das fortan die Fürsten zu entscheiden hatten, ob ihre Untertanen evangelisch oder katholisch werden sollten. So hatten die Fürsten nicht nur die Macht über die äußeren Seiten des Lebens, sondern auch über das persönlichste Gewissen, ja über ihr Seelenheil. Das hatte katastrophale Folgen: Deutschland wurde nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zersplittert. Das ständige Zittern vor der Willkür kleiner Fürsten verhinderte die Entstehung demokratischer Traditionen und bewirkte genau den Infantilismus, den Bohrer beschrieben hatte. Es ist bekannt, daß dieser Zustand der Zersplitterung und Einengung gefährliche Träume provozierte, Träume von einer neuen Weltanschauung, die die konfessionelle Spaltung überwinden und damit Deutschland neu vereinen könnte, und Träume von einer militärischen Großmacht. Daß diese Träume im Nationalsozialismus mündeten und mit ihm scheiterten, ist ebenfalls offenkundig.

So wollen wir unsere Geschichte am liebsten vergessen. Daß unsere Kinder nicht mehr wissen, was an Weihnachten geschah, ist dafür ebenso bezeichnend wie das Phänomen, daß in den neuen, selbstgemachten Religionsformen die Reinkarnationslehre eine immer größere Rolle spielt. Wenn ich die Reinkarnation leugne, bin ich in meinem Bekanntenkreis isoliert. Denn diese Lehre kommt den besonderen deutschen Wünschen sehr entgegen: sie scheint von der eigenen Geschichte zu befreien (wenn Deutsche an die Reinkarnation glauben, so schließt das natürlich ein, daß sie in ihren vergangenen Leben keine Deutschen waren) und sowohl die Angst vor der Hölle als auch die Angst vor dem Nichts nach dem Tod zu nehmen. Daß dabei die Einmaligkeit des einzelnen Menschen auf der Strecke bleibt, wird in Kauf genommen.

Dies alles wird es den Deutschen nicht leicht machen, sich mit Jakow Krotow zu beschäftigen. Der genaue Blick auf das gegenwärtige Rußland, den diese Beschäftigung mit sich bringen würde, könnte einen Schock verursachen. Denn er könnte plötzlich die Erinnerung an die Zeit vor 500 Jahren wachrufen, in der es bei uns zwar noch die Erfahrung der Befreiung durch den christlichen Glauben, aber auch blutige Religionskriege gab. Auch das Phänomen, daß sich der Staat in die Angelegenheiten der Kirche einmischt, könnte diesen Schock verstärken. Und doch könnte dieser genaue Blick auch darauf aufmerksam machen, daß bestimmte Erfahrungen der orthodoxen Kirche uns helfen könnten, die Fehler der Vergangenheit nicht noch einmal zu wiederholen. Diese Erfahrungen haben Jakow Krotow entscheidend geprägt.

Daß Krotow keine Neigung zeigt, seine Mitmenschen zur ewigen Hölle zu verdammen, hat er zwar mit den meisten westlichen Pfarrern gemeinsam. Doch die Rede von der allumfassenden Liebe Gottes klingt nicht so abstrakt wie bei uns, weil bei den griechischen Kirchenvätern, die die orthodoxe Lehre entscheidend beeinflußten, die Hölle nicht die gleiche Rolle wie im Westen spielte. Bei Katholiken und Protestanten spielte die Vorstellung eines rächenden, strafenden Gottes, dem der Mensch durch Grausamkeit nacheifern mußte, eine ganz andere Rolle. Der Typus des „Gutmenschen“, den Katholiken und Protestanten in Deutschland gleichermaßen penetrant verkörpern, läßt sich vor allem durch den Wunsch erklären, die eigene Geschichte mit einem Schlag hinter sich zu lassen. Die Nachahmung alles Weltlichen in den Kirchen von heute ist nicht nur Ausdruck eines Komplexes, sondern auch Ausdruck der Schuldgefühle gegenüber der säkularen Wirklichkeit. In Rußland aber wandte sich schon ein frühmittelalterlicher Fürst wie Wladimir Monomach gegen die Todesstrafe, und die erste Ketzerhinrichtung unter Iwan III. in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war heftig umstritten. So ist die Verbindung von Religion und Gewalt in Rußland etwas , historisch gesehen, relativ Neues, was ihr leider auch eine gewisse Lebenskraft verleiht. Dagegen aber verkörpert gerade Krotow, den die russischen Traditionalisten wegen seiner Innovationen ablehnen, eine viel ursprünglichere christliche Tradition; die radikale Ablehnung der Gewalt im Urchristentum ist bei ihm noch Teil einer lebendigen Überlieferung.

Daß es in der orthodoxen Kirche die Tradition der geistlichen Väter gibt, hat es auch einem atheistisch Erzogenen wie Krotow ermöglicht, sich durch seine besondere Beziehung zu Alexander Men in diese Überlieferung einzuordnen. So bewahrt diese Tradition in Rußland die Christen von der Geschichtslosigkeit, die im Westen die Protestanten, aber immer mehr auch die Katholiken bedroht. Freilich hat solch eine Tradition auch ihre Schattenseiten: Geistliche, die im Geheimdienst mitgearbeitet hatten, können als geistliche Väter ihre Machtposition erhalten und üben so noch heute einen nicht geringen Einfluß auf die Kirche aus. Auch der Patriarch Alexij II. hatte im Geheimdienst mitgearbeitet, was manches an seiner Haltung zum Tschetschenienkrieg oder zu anderen christlichen Konfessionen erklärt. So wurde denn Krotow auch nicht in der Patriarchatskirche, sondern in der Katakombenkirche zum Priester geweiht.

Steht also Rußland vor einer neuen Kirchenspaltung? Doch die Tatsache, daß es im christlichen Osten keine zentrale Kirchenleitung gibt, hat bislang auch den Abspaltungen, die es dort wie im Westen gab und gibt, ihre Absolutheit genommen. So wurden die Bischöfe der Katakombenkirche zwar nicht vom Moskauer Patriarchat, aber vom Patriarchen von Konstantinopel anerkannt. ... Auch im heutigen Rußland könnte sich noch vieles ändern. Wenn sich die Christen im Westen den Christen im Osten stärker zuwenden würden, könnten diese Wandlungen vielleicht früher als geahnt kommen. Gerade der Schock, den deutsche Gutmenschen dabei erleiden müßten, könnte sie aus ihrem Infantilismus herausführen. Die Beschäftigung mit Jakow Krotow könnte dabei in besonderem Maße helfen, daß dies ein heilsamer Schock wird.



[1]             EKD = Evangelische Kirche in Deutschland

 

 
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